Fachliteratur für Liebhaber

betr.: Sprechen am Mikrofon*

Wenn mir im Unterricht eine Sprachmarotte oder Dialektschwäche auffällt, mache ich ihren Träger sofort darauf aufmerksam, verweise ihn aber an einen Logopäden. Ich bin für das Textverständnis zuständig, Artikulation ist ein Fachgebiet für sich.

Im Urtext des einschlägigen Standardwerkes „Der kleine Hey – Die Kunst des Sprechens“ wird diese Unterscheidung nicht vorgenommen, und auch in späteren Überarbeitungen dieses um die Jahrhundertwende von Julius Hey geschaffenen Leitfadens verschwimmen die Grenzen zwischen Aussprache und Textauffassung.
Auch sonst ist Hey um einen volkstümlichen Ton bemüht. Er schreibt, man lerne am besten, durch „Selbstbeobachtung“ seine Stimme zu beurteilen, „d. h. etwaige Stimmhemmungen zu konstatieren und dementsprechend zu korrigieren.“ Diese verharmlosende Ermunterung leistet der Gefahr Vorschub, sich lediglich einzubilden, man sei in der Lage, die eigene Sprechweise zu beurteilen, und vorhandene Fehler zu kultivieren. Den Klang der eigenen Stimme zu beurteilen, ist dem Menschen sogar völlig unmöglich – wie jeder einsieht, der sich an den schauerlichen Augenblick erinnert, da er seine eigene Stimme zum ersten Mal auf einer Aufnahme gehört hat.

Beides – saubere Artikulation und rasches, gründliches Textverständnis – ist zwingend notwendig, um seriös als Sprecher arbeiten zu können, doch es handelt sich um zwei Baustellen, auf denen getrennt gearbeitet werden muss.
Diese Bemühungen können auch parallel erfolgen, doch alle Sprachfehler müssen mittelfristig ausgeräumt werden. Abgesehen davon, dass man ohne korrekte Aussprache als Sprecher nicht vermittelbar ist, bedeuten die obligatorischen Unsauberkeiten eine beständige Ablenkung und damit eine zusätzliche Fehlerquelle.
Selbstverständlich geht es nicht darum, einen Dialekt abzuschaffen. Es gilt, ihn kontrollieren und die saubere Aussprache bei Bedarf auch verschleifen und abwärts regulieren zu können – dem jeweiligen Sujet entsprechend, der Wahrhaftigkeit zuliebe.

Ohne saubere, hochsprachliche Artikulation kommt man am Mikrofon zu wirklicher Größe, ja selbst zu einiger Brauchbarkeit nicht hinauf. Berühmte Ausnahmen bestätigen die Regel. Sie heißen: O. E. Hasse, Gert Fröbe, Oskar Werner (die neben ihrer Schauspielkunst auch große Rezitatoren gewesen sind). Außerdem ist noch der über jeden Zweifel erhabene Hans Paetsch zu nennen, dessen allweil tief im Rachen rumpelndes, dröhnend gerolltes R zu den Grundrechten aller Cassettenfreunde zählt.
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* Wenn hier von „Sprechern“ die Rede ist, sind Leute beiderlei Geschlechts gemeint, die den interpretierenden Sprecherberuf ausüben, also nicht etwa Nachrichtensprecher, Moderatoren, Podcaster, Animateure, Propagandisten, Schauspieler, Comedians oder sonstige von Berufswegen redende Menschen.

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