Die schönsten Filme, die ich kenne (119): „Hereditary – Das Vermächtnis“

Ellen Taper Lee wird zu Grabe getragen, eine schwierige alte Dame, die zuletzt überdies in geistige Umnachtung gesunken war. Nach der Beerdigung kehren ihre labile Tochter Annie, deren zartfühlender Mann Steven und ihre Teenager Peter und Charlie zurück in das in waldreicher Einsamkeit gelegene, riesige Haus. Annie ist eine hochbegabte Künstlerin, die sich auf eine große Ausstellung vorbereitet. Sie baut hyperrealistische Puppenhäuser nebst Bewohnern. Dass sie sich als Vorlage ihr eigenes Familienleben gewählt hat – bis hin zur Darstellung Ellens auf dem Sterbebett – ist Ausdruck des ungelöst gebliebenen Zerwürfnisses mit ihrer Mutter. Charlie, das Nesthäkchen, ist autistisch, leidet unter bedrohlichen Allergien und wurde von ihrer Großmutter restlos verzogen. Zu ihren Ticks zählt, dass sie bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit Zeichnungen ihrer Mitmenschen anfertigt – wenig schmeichelhafte, aber stets unverkennbare Portraits. Charlie vermisst ihre Oma und macht ihrer Mutter diesen Verlust zum Vorwurf. Immerhin Peter scheint ein ganz netter, normaler Junge zu sein.
Eines Abends wird Peter von Annie  gezwungen, seine kleine Schwester auf eine Party mit Schulkameraden mitzunehmen – zu beider großem Widerwillen … 
An dieser Stelle, dem Ende des ersten Aktes, muss die Inhaltsangabe höflicherweise abbrechen, um das Vergnügen nicht zu verderben.

Filme, die mit minimalem Aufwand größtmögliche Wirkung erzielen, machen mir auch deshalb so viel Freude, weil sie wirken, als müsste es ganz einfach sein, sie herzustellen. Ganz besonders wenn es sich um Thriller oder Horrorfilme handelt, nähren sie in mir die Illusion, am Ende der Vorführung würde ich in einer Welt weiterleben, in der alle Regisseure – oder doch wenigstens einige – intelligente Filme drehen, die nicht ihr gesamtes Sinnen und Trachten am anspruchslosesten anzunehmenden Zuschauer ausrichten oder an sein schlechtes Gewissen appellieren. Dann wache ich auf – und die Erde hat mich wieder.
Den wenigen gescheiten Filmen, die es noch gibt, und ihren Regisseuren bin ich dankbar. (Michael Haneke möchte ich am liebsten um den Hals fallen für sein manipulatives Genie.) Kurioserweise funktionieren sie fast noch besser, wenn ich sie zum wiederholten Mal sehe. „Psycho“ war so ein Film und „Rosemarys Baby“. „Das Waisenhaus“ und „The Visit“ sind neuere Beispiele. „Hereditary – Das Vermächtnis“ (USA 2018) reicht da erzählerisch nicht ganz heran, doch er hat einen vollkommenen Rhythmus, ist raffiniert und grauenvoll. Unbemerkt baut sich nach jedem Schock-Erlebnis eine Stille auf, aus der wir wiederum brutal herausgerissen werden. Der Film ist ein Kammerspiel im doppelten Wortsinne. Die Variationen der Puppenstuben-Metapher, die schon in der Eröffnungssequenz etabliert wird, sind eine beständige Quelle böser Ahnungen und blanken Entsetzens. Die geschaffenen Kunstwerke (Annies Puppenhäuser bilden eine Parallelwelt, Charlies irritierende Zeichnungen – sie sehen tatsächlich wie Kinderzeichnungen aus! – sind Menetekel) schüren unsere Paranoia, bis wir vor unserem eigenen Schatten erschrecken.
Auch die Besetzung ist hoch zu preisen. Toni Collette hat das interessanteste Gesicht, das ich in 29 Jahren auf der Leinwand gesehen habe, und sie kommt an der Seite des bieder-trantütigen Gabriel Byrne umso besser zur Geltung.

Autor und Regisseur Ari Aster erhielt nach diesem Erfolg die Möglichkeit, mit größerem Budget zu drehen. Sein nächster Film macht nach einem famosen Intro fast alles falsch, was „Hereditary“ richtig macht. „Midsommar“ investiert die überschüssigen Mittel nicht in Schauwerte, sondern in seine Länge. Schon die Kinofassung dauert eine Ewigkeit (ich will mir gar nicht ausmalen, wie entsetzlich es sein muss, sich den Director’s Cut anzusehen) und walzt jedes Geheimnis aus ihm heraus. „Hereditary“ ist bei zwei Stunden Länge flott und athletisch.

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