Meine schönsten Hörbucherlebnisse des Jahres: „Spiel im Morgengrauen“ (SRF 1982)

Willi sprach kein Wort. Er gewann, verlor, trank ein Glas Kognak, gewann, verlor, zündete sich eine neue Zigarette an, gewann und verlor. (…) Und wieder lagen Karten vor ihm. Er setzte – wieviel, wusste er nicht genau. Eine Handvoll Banknoten. Das war eine neue Art, es mit dem Schicksal aufzunehmen. Acht. Nun musste es sich wenden.

Artur Schnitzlers „Spiel im Morgengrauen“ ist – seinem Klassikerstatus entsprechend – häufig als Hörbuch produziert worden. Die beste Interpretation dürfte die sein, die der mdr im Frühjahr in die Mediathek gestellt und – wie bei dieser Anstalt üblich – rasch wieder entfernt hat. Das Schweizer Radio und Fernsehen, das die Lesung 1982 produzierte, hält sie noch immer zum Nachhören bereit.*

In Schnitzlers Novelle führt der junge Leutnant Wilhelm Kasda (der Erzähler nennt ihn Willi) ein gemütliches Leben mit Kasernendienst, Gelegenheitsliebschaften und Kasino-Abenden. Als ihn ein ehemaliger Kamerad um Geld bittet, lässt sich Willi von seiner Neigung zum riskanten Glücksspiel zu einem Vorschlag ohne Gewähr verleiten: er will die benötigte Summe am Spieltisch auftreiben. Zunächst hat er eine enorme Glückssträhne und könnte mit einem stattlichen Gewinn aus der Partie aussteigen. Doch Willi kann nicht aufhören und ist am Ende hoch verschuldet. Kann er die Summe nicht binnen 24 Stunden begleichen, wie es der Ehrenkodex vorschreibt, muss er seinen Dienst quittieren. Ein Nachsuchen bei seinem Onkel bleibt ohne Erfolg.
Daraufhin wendet sich Willi an dessen Frau Leopoldine, mit der er einst ein kurzes Verhältnis gehabt hat. Damals war sie noch ein Blumenmädchen gewesen. Willi hatte sie ungewollt gedemütigt, indem er ihr zehn Gulden auf dem Nachttisch hinterließ. Leopoldine – die ihn damals geliebt hatte – verbringt nun eine Nacht bei ihm und bezahlt ihn ihrerseits – mit einer kleinen Summe, die für die Schulden des Kameraden reicht, nicht für die Willis.
Innerhalb von 48 Stunden hat sich das gesamte Leben des Helden in Schmach und Ruin aufgelöst: Geld, Glücksspiel und Liebesabenteuer haben ihre zerstörerischen Kräfte entfaltet, ein Wechselspiel von Eros und Thanatos – Liebe und Tod …

Die beiläufige Herzlosigkeit, dieser für deutsche Ohren so gnadenlos sadistische Unterton des kakanischen Zungenschlags, verleiht der Lesung des großartigen Textes eine Sogwirkung. Die Schauspielerin Maria Becker – 1920 in Berlin als Tochter zweier Schauspieler geboren und mit dem „Anschluss“ Österreichs in die Schweiz geflohen, wo sie sich den Ruf als Charakterschauspielerin und Tragödin erwarb – beherrscht diesen Ton perfekt, was ihre gestalterischen Möglichkeiten auf die Spitze treibt. Fast möchte man vor diesem grandiosen Vortrag warnen!

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* https://www.srf.ch/sendungen/hoerspiel/podcast-lesung-spiel-im-morgengrauen-von-arthur-schnitzler

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