Angebote an den Volksmund: Das generische Füllmonster

betr.: Neologismus

Seit die KI von uns allen gratis genutzt werden kann, ist zu den obligatorischen retuschierten Portraitfotos noch das retuschierte Bewegtbild hinzugekommen. Wer jetzt einfach konsequent zu Hause bleibt und sich niemandem mehr zeigt, wer alle physischen Kontakte abbricht und nur noch virtuell mit anderen zusammenlebt, der kann sich störungsfrei in die Wahnvorstellung versetzen, tatsächlich so auszusehen wie in seinem Videoblog oder seinem TikTok-Auftritt.

Auch wer es etwas lockerer angeht, kann sich selbst im Social-Media-Auftritt kinderleicht jünger machen – um nichts anderes geht es ja. Und außerdem schlanker, fleckenloser, weniger spießig. Oder er kann die KI bitten, gleich etwas ganz Neues zu erfinden.

Noch sind diese Fakes auf den ersten Blick als solche erkennbar und lösen unwillkürliches Kopfschütteln aus. Doch noch ehe die rasant dazulernende KI die letzten verräterischen Zeichen getilgt haben wird, werden diese gar keine Rolle mehr spielen. Wir werden uns rasch daran gewöhnen, es „im Netz“ mit „Kunstfiguren“ zu tun haben. Es wird uns egal sein, dass wir von einigen unserer „Freunde“ niemals erfahren werden wie sie eigentlich aussehen. Und das wird uns nichts ausmachen – so wie wir im Grunde wissen, dass Hannibal Lecter privat Anthony Hopkins heißt und in Wirklichkeit niemals die Gesichter seiner Opfer anziehen würde, und uns trotzdem gerne vor ihm gruseln.
Das Wort „Kunstfigur“ will ich sogleich wieder zurücknehmen, denn mit „Kunst“ hat dies alles nichts zu tun, streng genommen nicht einmal mit Künstlichkeit. Wir sind auf einer ganz neuen Ebene der Verstellung, der (Selbst-)Täuschung angekommen.
Das Wort „Avatar“ zu recyceln finde ich deshalb unglücklich, weil der damit bezeichnete Gegenstand weiterhin gebräuchlich bleibt und – dem gegenseitigen Verständnis zuliebe – eine eigene Bezeichnung verdient.
Bis ein flotter Anglizismus dafür gefunden ist, würde ich vorschlagen, von einem Füllmonster zu sprechen.

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