Wirkmächte und Schwerfälligkeiten

Das Wesen des Kopfkinos

Das Kino im Kopf dessen, dem eine Geschichte erzählt wird, ist weitaus älter als das Kino selbst – so weit, so banal.
Dass es bis in unsere heutige Zeit der allzeit verfügbaren bewegten Bilder ein urmenschliches Bedürfnis ist, sich selbst Bilder vorzustellen (das Kopfkino anzuwerfen), fand der Schriftsteller Clemens J. Setz durch einen aktuellen Trend belegt: er beschreibt in der „Zeit“ die immense Beliebtheit von Nacherzählungen brutaler Gewaltaufnahmen auf TikTok und YouTube. Die Stars dieser Formate erzählen abscheuliche Fundstücke aus dem Netz wie Hinrichtungsvideos nach „damit ihr es nicht selbst anschauen müsst“. Tatsächlich ernten sie hohe Klickzahlen von jenen, die diese Videos selbst dann nicht mehr anklicken, wie man herausgefunden hat. Warum nicht? Weil die eigene Vorstellungskraft viel entsetzlicher ist als das tatsächlich Gezeigte.
Außerdem kann man bei einem Film(chen) die Augen schließen, wenn man die Details nicht mehr erträgt. Die eigene Vorstellungskraft kann man nicht abschalten. Das wussten die Erzähler des Kinos fast von Anfang an.
So unterschiedliche Filmemacher wie Alfred Hitchcock und Werner Herzog haben das, was sie uns nicht hören und sehen lassen konnten oder wollten, in reagierenden Gesichtern gespiegelt – Hitchcock in „Easy Virtue“ (1927), Herzog in „Grizzly Man“ (2005).
Jack Arnold hätte das Alien in seinen B-Film-Klassiker „It Came From Outer Space“ („Gefahr aus dem Weltall“, 1953) überhaupt nicht im Bild gezeigt, wenn ihn das Filmstudio nicht dazu gezwungen hätte. Sein Film „Monster On The Campus“ („Der Schrecken schleicht durch die Nacht“, 1958) ist besonders spannend bis zu dem möglichst lange hinausgezögerten Moment, in dem das Titelwesen endlich zu sehen ist.
Historisch – weil konsequent umgesetzt – wurde der Kunstgriff spätestens in Steven Spielbergs erstem Kinofilm „Duel“ (1972): von dem dämonischen Truck-Fahrer, der dem Helden nach dem Leben trachtet, sehen wir nur die Stiefel. 

Nach diesem Prinzip funktioniert die Literatur seit jeher. Sie verlässt sich auf unser Kopfkino.
Clemens J. Setz freut sich über die ungebrochene Gültigkeit der Regel, „dass die richtig gewählten Worte eine reale Form von Telepathie darstellen“, auch bei der Generation Z. Bilder können in einem abstumpfenden, absurden Maße grausam auf uns wirken. Sie sind insofern weniger eindrucksvoll als wenn „mein eigener, ganz sich selbst überlassener Kopf beim Entwerfen von allein durch Worte suggerierten Bildern spielt“.
Für die Erzähler selbst können die grenzenlosen Kräfte der Imagination auch von Nachteil sein.
Woody Allen, der in 55 Jahren 50 Filme gedreht hat, beklagte in mehreren Interviews, dass ein Film nie so gut würde wie er es sich beim Schreiben des Drehbuchs vorstellt. Wenn er großes Glück habe, würde er immerhin nicht wesentlich schlechter. Mindestens einen seiner Filme hat Allen nach Fertigstellung vernichtet und mit anderer Besetzung vollständig neu gedreht.

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