Gemeinsam das Lesen verlernen

Schon in der Grundschule wurde uns beigebracht, wie man nicht liest. Wir verbrachten mehrere Deutschstunden mit jedem Lesestück. Reihum kamen wir dran und mussten den gleichen Text immer wieder laut vorlesen. Das holperte und stolperte, dass es eine Unlust war. Wort für Wort wurde laut vom Blatt abgelesen – eines nach dem anderen, ohne den Satz zu verstehen, ohne Sinnbogen und Subtext. Ein Kind las, alle anderen hörten, wie schlimm das ist: Lesen. Und lernten sonst nichts dabei. Unterbewusst blieb der Text mit der Zeit in unseren Hirnwindungen hängen – phonetisch. Wie ein Lied in einer Fremdsprache. Oder ein Nonsensgedicht.
Wer Glück hatte, der kam erst als 15. an die Reihe und dann wieder als 41. – so dass er die Geschichte auswendig konnte, wenn er es wieder versuchen musste.
Der Lesekompetenz half das nicht, es war eine Gedächtnisübung. Die traurig-resignierten Korrekturverrenkungen der Lehrerin prägten sich mit ein, wobei die Gute natürlich unmöglich alle Fehler hätte bemängeln können. Sie beschränkte sich auf die allerschlimmsten – sonst wären wir in einem Schuljahr niemals mit einem Lesestück fertiggeworden.
Irgendwann war der Text dann so totgeprobt, dass unser Geschichtenzentrum taub wurde und wir die Worte im Grunde gar nicht mehr wahrnahmen. Mittlerweile hatten wir aber Routine und klangen so flüssig, dass ein zuhörender Klingone (oder sonst ein nicht des Deutschen Mächtiger) den Eindruck eines souveränen Vortrags gewonnen hätte. Dann klatschte die Lehrerin einmal in die Hände, und es wurde eine neue Geschichte aufgelegt. Der ganze Horror begann von vorn. Alles Gemerkte und Eingeprägte wurde wertlos. Dafür lernten wir eine Lektion fürs Leben: es wiederholt sich alles, es geht immer wieder von vorne los, und harte Arbeit lohnt sich nicht.
Das war mein Deutschunterricht.
Dass er mir die Kraftquelle des Lesevergnügens nicht auf ewig versperrt hat (wie es einige Jahre später der Französischunterricht mit dem Beherrschen der französischen Sprache tat), verdanke ich den Comics, mit denen ich schon als Vierjähriger lesen lernen durfte.

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