Langsamer ist schwerer

betr.: Sprechen Am Mikrofon

Unser Timing ist stark davon abhängig, ob wir mit dem ganzen Körper agieren (uns also physisch im ON befinden) oder „nur“ mit der Stimme.
Auf der Bühne sprechend – zu einem gleichzeitig anwesenden Publikum – haben wir immer das Gefühl, etwas langsamer zu sein als wir es tatsächlich sind.
Wer sich dieses Umstandes nicht bewusst ist (vor allem Berufsanfänger und besonders eitle ältere Kollegen), der fällt dem Betrachter als zu langsam auf.
Am Mikrofon – ohne anwesendes Publikum und nur auf einen einzelnen Zuhörer ausgerichtet – sind wir hingegen zu rasch und müssen zu Beginn unserer Beschäftigung mit dem Lesen vom Blatt immer wieder ermahnt werden, uns nicht so sehr zu beeilen.
Die Gründe für dieses kuriose Phänomen sind einleuchtend. Hier soll uns aber nur Variante 2 beschäftigen: die seltsame Unrast am Mikrofon.

Beginnen wir mit einer Beobachtung, die wir alle schon gemacht haben: Schnellsprecher bilden sich etwas darauf ein, schnell sprechen zu können. Umgekehrt hat noch niemand damit geprahlt, besonders langsam sprechen zu können, dabei ist das viel komplizierter.
Wer schnell spricht, ist stolz darauf, schneller zu sein als die imaginierte Konkurrenz – eine evolutionäre Programmierung, die wir noch heute überall im Alltag antreffen, ganz besonders bei Wettkämpfen aller Art (Sport, Quizshow, kindisches Benehmen auf dem Schulhof …).
In der Zeit des linearen Fernsehens hat sich der Moderator der „ZDF Hitparade“, Dieter Thomas Heck (ein ehemaliger Stotterer) damit hervorgetan, seinen abschließenden Schnelldurchlauf fehlerfrei herunterrattern zu können, und auch sonst liebte er seine Rede hart und zackig. Unter seinen Stammgästen befand sich übrigens der Schlagersänger Tony Marshall, der das auch gut zu können glaubte. (Auf Schnellsprech-Machtkämpfe ließ sich Marshall aber nur bei ungefährlicheren Gegnern ein, etwa Rudi Carrell.)
Einige meiner Sprecherkollegen haben tatsächlich damit angegeben, wie schnell sie den berühmten Satz „Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie bitte die Packungsbeilage oder fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker!“ sauber hersagen können – wohlgemerkt: im Kollegenkreis.

Bittet man einen Vorleser, schneller zu sprechen, wird er das auf der kurzen Strecke (nicht mehrere Sätze hintereinander vom Blatt lesend) sicher hinbekommen. Und er wird sich dabei angenehm gefordert fühlen. Wir können uns auf seinen optimistischen Ehrgeiz – also auf das Anspringen des beschriebenen urmenschlichen Reflexes – verlassen.
Bittet man ihn jedoch, langsamer zu lesen, befällt ihn großes Unbehagen. Es setzt sich eine ganze Abfolge von Reaktionen auf etwas in Gang, was er allgemein als unnatürlich empfindet.
Die meisten Sprecher jeglichen Alters, die ich im Unterricht um Verlangsamung bitte, reagieren, als hätte ich etwas Ungehöriges oder Widerwärtiges von Ihnen verlangt. Da davon ja keine Rede sein kann (was sogleich jedem klar ist), versucht man es dann mehr schlecht als recht. Es werden Tricks angewandt, die nicht funktionieren. Als erstes wird versucht, den Sprachfluss durch Pausen auszubremsen und dazwischen umso hastigere kleine Texthäufchen zu machen. Wenn wir das gemeinsam als sinnlos erkennt haben, kommt stets das Argument: „Ich merke gar nicht, dass ich zu schnell spreche.“
Niemand kommt auf die Idee, die Vokale zu dehnen. Und selbst wenn ich diesen Hinweis gebe (es zur Not sogar vormache), erscheint das Herabsenken des Tempos als eine Zumutung und als ein exotisches Kunststück.

Man muss es sich trotzdem aneignen. Es ist nicht nur eine Technik, auf die in der Praxis niemand verzichten kann, der sich professionell wähnt. Es ist überhaupt die Voraussetzung für die inhaltliche Erfassung des Textes, von der hier schon so häufig die Rede war.

Warum wir es als Zuhörende ganz und gar nicht mögen, wenn der Vortrag zu schnell ist, liegt auf der Hand: wir müssen uns unnötig anstrengen, um mitzuhalten. Zusätzlich überträgt sich die Schinderei des archaischen Wettläufers am Mikrofon unmittelbar ins Auditorium. Wir fühlen uns alle miteinander unwillkommen.

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