Mit Archivmusik kamen die Mediennutzer des 20. Jahrhunderts erstmals im linearen Fernsehen in Berührung, und immer geschah dies im Geheimen und Unbewussten.
Wer eine Dokumentation betrachtete, dem war egal, woher die Musik kam – in der Regel aus einem Archiv, das auf solche Zulieferdienste spezialisiert war, gut sortiert und vorbereitet auf alle denkbaren Anliegen: Naturfilm, Industriefilm, Auslandsreportage, Geschichtsdoku …
Bei Spielfilmen gab es sowas auch, und hier konnte es auffallen.
In den 70er und 80er Jahren hatte das deutsche Filmpublikum viel nachzuholen. Doch nur ein geringer Teil der ausländischen Klassiker, die Deutschland in der NS-Zeit versäumt hatte, kam nachträglich ins Kino – etwa Filme wie „Casablanca“ oder „Vom Winde verweht“. Das meiste wurde fürs Fernsehen synchronisiert, und die zumeist fehlende isolierte Tonspur mit der Filmmusik wurde durch Stücke aus der Musik-Bibliothek ersetzt.
Auffällig war das vor allem deshalb, weil manche dieser namenlosen Musik-Clips in ganz unterschiedlichen Filmen auftauchen konnten.
Den feinfühligeren Filmfreund konnte außerdem irritieren, dass die Musik nicht immer zum Bild passte. In keinem Fall war diese Bild-Ton-Schere schmerzhafter als in dem Kriminalfilm-Klassiker „Die Spur des Falken“ (nach „Der Malteser Falke“) mit Humphrey Bogart. Die Musik ist nicht nur emotional zu einheitlich (durchgehend beschwingter Bigband-Jazz, der unverkennbar aus deutschen Landen kommt), sie ist auch schlampig geschnitten, überrennt Szenenwechsel oder beginnt / endet zur Unzeit.
Ungeachtet dessen ist die Her- und Bereitstellung von Archivmusik ein seriöses und anspruchsvolles Anliegen und ist das betreffende Material künstlerisch mitunter wertvoll.
So obskur diese Musiktracks auch sein mögen, zu ihren Komponisten zählen überaus bedeutsame Leute wie Rolf Kühn, Dieter Reith, Coco Schumann und Peter Thomas, letzterer ein Wirtschaftswunder-Filmmusiker der durch seine Arbeit an Serien wie „Raumpatrouille“, „Der Alte“ und „Edgar Wallace“ frühzeitig ein bekannter Name war. Dass viele seiner Takte seit dem Easy-Listening-Boom der 90er Jahre als Samples wiederkehrten, passt dazu, dass er inzwischen auch als Archivmusiker entdeckt und gefeiert wird.
Als Soundtrack getarnt kam eine Sammlung britischer Library Music von Simon Park und seinem Team auf den Schallplattenmarkt. Das Titelstück ist die Erkennungsmelodie der Serie „Van der Falk“. Der Detektiv auf dem Cover ist der Schauspieler Barry Foster, der in jenen Tagen auch für Hitchcock den abscheulichen Krawattenmörder spielte. Vermutlich deshalb fanden viele den Darsteller so unsympathisch, dass die Serie hierzulande bald abgesetzt wurde.
Library Music ist eine Gebrauchsmusik, die nicht über die GEMA abgerechnet wird, sondern deren Schöpfer durch eine Einmalzahlung vergütet werden. Die Produktionsfirma stellt sie für vergleichsweise kleines Geld Film- und TV-Produzenten zur Verfügung. Hin und wieder werden diesem Repertoire auch Film- und TV-Soundtracks nachträglich hinzugefügt, etwa Fred Strittmatters und Quirin Ampers neo-retrospektive Stummfilmmusik für die Serie „Väter der Klamotte“, die heute von Intervox vertrieben wird. Der Zuschauer des Endproduktes erfährt den Namen der Komponisten nicht, Anonymität ist in diesem Bereich der Regelfall.
Gerade das machte die Arbeit fürs Archiv für Leute wie Peter Thomas so interessant: ohne eine Rufschädigung zu riskieren, konnte man hier Missglücktes weiterspinnen, den Zettelkasten auswerten, schlicht „einfach nur Quatsch machen oder ganz ernsthaft in dieser vor den marktüblichen Kommerzialisierungsanforderungen geschützten Nische endlich seine kühnsten avantgardistischen Ideen verwirklichen“ (Dieter Diederichsen in der „taz“).
Wenn sich eine Produktionsfirma auflöste oder sich im Zuge der Digitalisierung von ihren Vinylbeständen trennte, landeten diese Aufnahmen auf dem Second-Hand-Plattenmarkt, wo sich ein eigenes Publikum von Sammlern dafür generierte. Inzwischen gibt es CD-Labels, die diese Musik regulär neu herausbringen. Library Music gibt es seit der Stummfilmzeit. Zunächst wurde sie – wie auch in der Popmusik – in Form von Notenblättern vertrieben. 1909 gründete der niederländische Musiker Meyer de Wolfe das Unternehmen „De Wolfe Ltd.“, das Kinos belieferte, die einen oder mehrere eigene Musiker zur Filmbegleitung beschäftigten. (Ab 1927 weitete de Wolfe seinen Service auf Schellackplatten aus, 1962 auf Vinyl.) Bis heute legendär und im Umlauf ist die Notenmappe „Kinothek“ von Giuseppe Becce von 1919, in der neben eigenen Stimmungsstücken auch Salonstücke und Evergreens aus der Klassischen Musik zu finden waren.