Fortsetzung vom 10.1.2025
Da sie nur selten vor die Tür ging, war ich Frau Thomsen bloß drei- oder viermal begegnet. Ihre Augen waren rot geädert wie die eines Menschen der niemals schläft, und ihre Hässlichkeit war derart vollkommen, dass sie mir eine Art schaudernden Respekt abverlangte. Und gleichzeitig war ich nach unseren Begegnungen noch tagelang von ihrem kalten und gierigen Blick verstört.
Sie hatte ihre Schlafkammer direkt über Vilhelms Zimmer, und ich spürte wie ihre niederträchtigen, schmierigen Gedanken durch die Decke sickerten und sich unauflöslich mit meinen vermischten.
Frau Thomsen verdächtigte ihre Untermieter sämtlicher unaufgeklärter Verbrechen und gönnte sich kaum Schlaf, weil sie fürchtete, den entscheidenden Beweis zu verpassen, sobald sie ihr Kommen und Gehen nicht mehr unermüdlich ausspionierte. Weil mir schon bei ihrem Anblick das Blut in den Adern gefriert, nehme ich an, sie waren schnell wieder verschwunden. Wenn sie nicht freiwillig das Weite suchten, setzte sie sie irgendwann vor die Tür. Sofort waren wieder neue da, bevor sie die Bettwäsche wechseln konnte. Das erzählte sie ihnen jedenfalls mit ihrer heiseren, atemlosen Stimme, die ihren Gedanken hinterherhinkte wie bei einem Stotterer, sich zu einem monotonen Meckern beruhigte, wenn sie zu den munteren Beschreibungen des Lotterlebens ihrer ehemaligen Untermieter überging, die sich von einer armen und kranken alten Witwe, die ihre besten Tage hinter sich hatte, nur schwer zum Studium anhalten ließen.
Frau Thomsen hasste ausnahmslos alle Frauen, die jünger und schöner waren als sie selbst, also ungefähr den gesamten weiblichen Teil der Menschheit. Sie hasste den Mythos von der großen Liebe und sah ihre Zweifel an deren Existenz an jenem Schicksalstag bestätigt. Ich bin mir fast sicher, dass sie auch an diesem Tag im Treppenhaus lauerte, ihr knorpeliges, behaartes Ohr an unsere Wohnungstür presste und hernach zufrieden zu sich hinaufhumpelte.
Diese Passage wurde aus einem längeren Abschnitt von Ditlevsens letztem Roman „Vilhelms Zimmer“ herausgeschrieben.