betr.: Sprechen am Mikrofon / Übung
Da sah er für einen Moment unter schonungsloser Scheinwerferbestrahlung die Fratze der Vettel vor sich, die maskendicke Schminkschicht auf der Matronenvisage, und dann, wie eine Röntgenaufnahme, hinter der Fassade den Verfall, die Löcher, Risse, Runzeln, die ganze grausige Abbruchreife der übertünchten Ruine.
Dieser Satz stammt aus der Erzählung „Der Todeskandidat“, dem letzten Prosawerk, das Max Herrmann-Neiße 1927 in Deutschland veröffentlichen konnte, ehe er nach dem Reichstagsbrand 1933 nach London floh, wo er 1941 starb.
Der Plot ist so nah an unserer heutigen Sensibilität für die Wohlstandsverwüstungen der Seele – und den Hype, der zuletzt um Leiden wie Depression und ADHS gemacht wurde -, dass er uns banal erscheinen müsste, doch die Sprache Herrmanns-Neißes zerstreut diesen Vorbehalt rasch:
Clemens, Anfang vierzig, ledig, in Arbeit und Brot, lebt in Berlin. Sein Leben scheint so weit in Ordnung. Doch plötzlich reicht die Kraft nicht mehr aus, aufzustehen. Clemens bleibt lethargisch liegen und der Arbeit fern, die Wohnung verkommt. Irgendwann will er Klarheit über seinen Zustand gewinnen, der doch wohl eine Krankheit sein muss. Als der Held sich endlich zum Besuch eines Arztes aufrafft, von dem er sich Linderung seines mysteriösen Leidens erhofft, ereignet sich dies:
In der nervösen Erregung seiner Diensteifrigkeit machte er aber lauter falsche, unzweckmäßige Handgriffe, verhedderte sich in seinen Kleidungsstücken, schämte sich selber seiner Ungeschicklichkeit und riss schließlich unbeherrscht die Hüllen vom Leibe, dass der Stoff Schaden nahm, Knöpfe zerbrachen und dann alles unordentlich, zerknüllt, beschmutzt am Boden durcheinanderlag.