betr.: Lesen vom Blatt / Übung
Eine Prima Vista Lesung in abgemilderter Form lässt sich durchführen, wenn man sich verschiedene Übersetzungen der selben Textpassage vornimmt: die erste wird still gelesen, die zweite laut.
Der Inhalt ist bekannt, der Wortlaut ändert sich.
Heutiges Beispiel: aus „Dracula“ von Bram Stoker.
Variante 1 (Übersetzung von K. B. Leder, 1967):
VIERTES KAPITEL
Jonathan Harkers Tagebuch – Fortsetzung
Ich erwachte in meinem Bett. Wenn ich nicht alles geträumt hatte, mußte der Graf mich hierhergetragen haben. Ich versuchte, mir darüber klarzuwerden, konnte aber nicht zu einem unzweifelhaften Ergebnis gelangen. Es gab zwar gewisse kleine Beweise, wie zum Beispiel den, daß meine Kleidungsstücke in einer Art zusammengelegt waren, wie ich es nie tat. Meine Uhr war noch unaufgezogen, ich pflege aber unbedingt, bevor ich zu Bett gehe, die Uhr aufzuziehen. Und so gab es noch einige Kleinigkeiten. Aber diese Dinge waren kein Beweis; sie hätten ebensogut Beweis dafür sein können, daß mein Geist nicht mehr wie sonst arbeitete. Und ich hatte wahrhaftig Ursache, erregt zu sein! Aber ich muß nach einem Beweis suchen. Nur über eines bin ich froh: Wenn mich wirklich der Graf hierhergetragen und hier ausgezogen hat, muß er es sehr eilig gehabt haben, denn meine Taschen hat er nicht untersucht. Ich bin sicher, das Geheimnis dieses Tagebuches hätte er nicht ertragen. Er hätte es an sich genommen oder vernichtet. Da ich mich jetzt hier im Zimmer umsehe, kommt es mir fast wie ein Heiligtum vor, obwohl es sich mir doch schon so voller Schrecken darstellte. Aber nichts kann schrecklicher sein als jene gräßlichen Frauen, die darauf warteten – oder noch darauf warten -, mein Blut zu saugen.
Variante 2 (Übersetzung von Andreas Nohl, 2012)
KAPITEL 4
Jonathan Harkers Reisetagebuch
(Fortsetzung)
Ich erwachte in meinem Bett. Sollte es kein Traum gewesen sein, muss der Graf mich hierher getragen haben. Ich versuchte mir darüber klar zu werden, kam aber zu keinem eindeutigen Ergebnis. Zwar gab es gewisse kleine Anhaltspunkte, etwa, dass meine Kleidung anders gefaltet und zusammengelegt war, als ich es tue. Auch war meine Uhr abgelaufen, dabei ist es meine feste Gewohnheit, sie immer unmittelbar, bevor ich ins Bett gehe, aufzuziehen. Und so gab es noch andere Indizien. Doch all diese Dinge sind kein Beweis, sie können ebenso gut bedeuten, dass ich nicht ganz bei Sinnen war, denn zweifellos war ich aus irgendeinem Grund sehr erregt. Ich muss nach Beweisen Ausschau halten. Über eines bin ich froh: Wenn der Graf mich hierhergetragen und entkleidet haben sollte, muss er in Eile gewesen sein, denn meine Taschen sind unangetastet. Ich bin mir sicher, er hätte dieses für ihn unverständliche Tagebuch nicht geduldet. Er hätte es an sich genommen oder vernichtet. Wenn ich mich nun im Zimmer umsehe, kommt es mir, obgleich es so furchtbeladen ist, wie ein Zufluchtsort vor, denn nichts kann grauenvoller sein als diese scheußlichen Frauen, die nur darauf gewartet haben – nein, die darauf warten, mir das Blut auszusaugen.