Lange Sätze – Lesen vom Blatt

betr.: Sprechen am Mikrofon / Übung / 150. Geburtstag von Thomas Mann in diesen Tagen

Wer nach dem geeigneten Text fragt, um in das Werk von Thomas Mann einzusteigen, dem wird wahrscheinlich „Mario und der Zauberer“ empfohlen, eine frühe und recht kurze Erzählung. Sie handelt oberflächlich von der Urlaubsreise einer Familie ins italienische Torre die Venere, im Subtext vom Besuch in einer Republik, in der kürzlich eine Diktatur ausgebrochen ist (Mussolinis Faschismus hat im Vorjahr begonnen), und dazwischen vom Dialog des Auftretenden mit seinem Publikum. Obwohl die Vorstellung im Sinne des Künstlers gelingt (eines als Illusionist getarnten Verführers und Hypnotiseurs), erzählt der Autor von allen Varianten einer Darbietung: glückend wie missratend, vor frechem wie vor ergebenem Publikum, aus der Perspektive plumper Störer und ergriffener Betrachter.

Torre hat ein Grand Hotel bekommen; zahlreiche Pensionen, anspruchsvolle und schlichtere, sind erstanden; die Besitzer und Mieter der Sommerhäuser und Pineta-Gärten oberhalb des Meeres sind am Strande keineswegs mehr ungestört; im Juli, August unterscheidet das Bild sich dort in nichts mehr von dem in Portoclemente: es wimmelt von zeterndem, zankendem, jauchzendem Badevolk, dem eine wie toll herabbrennende Sonne die Haut von den Nacken schält; flachbodige, grellbemalte Boote, von Kindern bemannt, deren tönende Vornamen, ausgestoßen von Ausschau haltenden Müttern, in heiserer Besorgnis die Lüfte erfüllen, schaukeln auf der blitzenden Bläue, und über die Gliedmaßen der Lagernden tretend bieten die Verkäufer von Austern, Getränken, Blumen, Korallenschmuck und Cornetti al burro, auch sie mit der belegten und offenen Stimme des Südens, ihre Ware an.

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