Der fachkundige Marcel Reich-Ranicki wies uns einst darauf hin, es gäbe keine Weltliteratur, die auf Hebräisch verfasst worden sei. Die wenigen Ausnahmen von dieser Regel müssen tief im Verborgenen geblüht haben. Drei Erzählungen, die von Feindschaft und verbotener Liebe, Stolz und Scham eines Heranwachsenden, äußerer Bedrohung und dem Traum vom verlorenen Paradies handeln, wurden von Ruth Achlama nun zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt: „Die beschämte Trompete“, „Hinter dem Zaun“ und die titelgebende Erzählung des Bandes „Wildwuchs“:
Tatsächlich heißt es, der Mensch sieht und begreift nur einmal. In seiner Kindheit. Die ersten Bilder, noch jungfräulich frisch aus Schöpferhand, sind die wahren, echten Eindrücke und die nachfolgenden nichts als fehlerhafte Neuauflagen, ähnlich den ersten, aber nur ein schwacher Abklatsch, nicht dasselbe. Am eigenen Leib erkannte ich das. Alle grandiosen Bilder von Himmel und Erde, über die ich im Leben einen Segensspruch gesagt habe, speisten sich ausschließlich aus diesem ersten Sehen. Im späteren Leben sah ich auch den Himmel Italiens in einem süßen Azur. Meine Füße standen auf Schweizer Berggipfeln. Ich sah sie, und mein Herz wurde weit. Wann hatte ich ein süßeres Blau als dieses erblickt, wo höhere und gewaltigere Berge als diese gekannt? Wann immer ich die Sonne fantastisch unter- oder aufgehen sehe, steh ich da und grüble. Ich habe doch einmal einen noch herrlicheren Auf- oder Untergang gesehen! Und wenn ich ein grünes Feld überquere, weiß ich nicht, warum ich kurz eine grüne Wiese vor mir sehe, jene Wiese, die ich erstmals im Dorf erblickte, noch im Schlepptau meiner alten Kinderfrau – sie ruhe in Frieden. Üppig und frisch, neu und lebendig stand das Gras zur Hälfte im klaren Wasser, übersät mit hübschen Blümchen, die ihre feuchten gelben Köpfe zwischen den Halmen hervorreckten, und im Auge eines jeden bebte ein reiner Tränentropfen.
Als wir aus dem Dorf wegzogen, ich war beinahe fünf Jahre alt, trübte sich mir das Auge der Welt ein wenig, und sein Glanz verblasste um einiges. An unserem neuen Wohnort am Stadtrand empfingen mich grauer Alltag und großer Trubel, das geschäftige Leben einer jüdischen Kleinstadt mit ihrem Treiben, Groll und Missbehagen. Je mehr das Menschengewühl ringsum zunahm, desto stärker zog ich mich zurück und desto mehr verebbten die Freudenjauchzer meines Herzens. Die ignoranten Kleinkinderlehrer, denen ich in die Hände fiel, verscheuchten mit Zorn und Gürtel meine kindlichen Visionen. Die frühen göttlichen Bilder erschienen mir nur noch, wenn ich allein war. (…) Hinter einem Wandschirm verbargen sich die Visionen und zwinkerten mir von dort gelegentlich zu, um die Bilder in meinem Geist wiederzubeleben und zu bestärken. Sie spähten kurz – und verschwanden. Kuck und weg! Tropfenweise wie ein teures Lebenselixier verrann der Glanz jener Wundertage in mein Herz, leuchtete meist nur stückchenweise aus meiner kindlichen Welt hervor.
Das historische Wolhynien liegt in der heutigen Nordwestukraine und gehörte im russischen Zarenreich zu einer Region, in der sich Juden dauerhaft ansiedeln durften, wodurch dort bedeutende Gemeinden entstanden. Aus dieser später völlig zerstörten Welt stammt das erwähnte Buch von Chaim Nachman Bialik. „Wildwuchs – Erzählungen aus Wolhynien“ entstand zwischen 1908 und 1934. Es ist auf Hebräisch geschrieben, was insofern bemerkenswert ist als sein mit dem Jiddischen aufgewachsener Autor Bialik die Gebetsspache Hebräisch für die Literatur öffnete und modernisierte. In ihr schrieb er unter anderem Gedichte und Erzählungen sowie nach wie vor sehr populäre Kinderlieder.
Geboren 1873 in Wolhynien, verbrachte Bialik die ersten Lebensjahre im kleinen Dorf Radiwka nahe Schitomir (ukrainisch: Schytomyr), wurde von seinem Großvater religiös erzogen, setzte sich schon als Jugendlicher für die Erneuerung der jüdischen Kultur ein, publizierte und lebte in Odessa, dokumentierte das Pogrom von Kischinev 1903, floh 1922 aus der Sowjetunion nach Berlin und wanderte 1924 nach Palästina aus. Der Autor, Verleger und Journalist gilt heute als Nationaldichter Israels, zahlreiche Straßen und Plätze sind nach ihm benannt.
„Wildwuchs“ ist bei C. H. Beck erschienen.