Die schönsten Filme, die ich kenne (46): „Phantom der Oper“ (2. Filmversion)

Es dauerte fast zwanzig Jahre, ehe die berühmte stumme Literaturverfilmung „Phantom der Oper“ ein Remake erfuhr: diesmal vollständig in Farbe und mit der Musik, die in Titel und Sujet versprochen wird.
In der Erzählung von Gaston Leroux, auf der beide Filme basieren, ist der Held „Erik“ schon verunstaltet zur Welt gekommen. Er hat die Pariser Oper erbaut und sich wohlweislich darunter ein teilweise bewohnbares Tunnelsystem eingerichtet.  Lon Chaney spielt in der Stummfilmfassung einen irren Ausbrecher von der Teufelsinsel, der sich in den Gewölben unter der Pariser Oper verschanzt. Er fördert die Karriere der jungen Christine und greift zunehmend zu brutalen Maßnahmen, um ihr bessere Rollen zu verschaffen. Schließlich entführt er sie in sein Reich, wo die berühmte Demaskierung ihren Lauf nimmt. Ihr Geliebter Raoul befreit sie, und ein zorniger Mob scheucht das Phantom in die Seine, wo es sein Ende findet.
In der strahlenden Technicolor-Version von 1943 wird der zunächst noch unentstellte Erik von Claude Rains verkörpert, einem Charakterdarsteller mit Erfahrung im phantastischen Film*.

Phantom Of The Opera (1943)_Soundtrak_FAnfang der 40er Jahre gab es noch keine Filmmusik-Platten, und so existiert von der musikalisch prachtvollsten „Phantom“-Bearbeitung aller Zeiten nur diese Doppel-LP von 1980. Als ich feststellte, dass sie nur die (gekürzte) Tonspur des Filmes – also vor allem die Dialoge – enthält, war ich so verärgert, dass ich sie wieder weggab – dem herrlichen Klappcover zum Trotz. Wie töricht: ebay bezeichnet das gute Stück heute als „very rare“.

Der Star der Oper, Anatole, ist der Bassbariton Nelson Eddy. Als männlicher Teil des „berühmtesten Gesangspaares der Filmgeschichte“ (das heute ebenso vergessen ist wie Eddy und seine Partnerin Jeanette MacDonald) wird er hier mit einer jüngeren Partnerin konfrontiert: Susanna Foster spielt die Christine.

Obwohl der Film in den selben Kulissen hergestellt wurde wie die Urfassung – in der „Stage 28“ von Universal, dem traditionsreichen Horrorfilm-Studio – wurde kein richtiger Gruselfilm daraus. Er enthielt, wie es ein Kritiker ausdrückte, „zu viel Oper und zu wenig Phantom“. „Oper“ muss hier in besonders große Gänsefüße gesetzt werden, denn abgesehen von zwei Gesangsnummern, die tatsächlich einer existierenden Oper zuzuordnen sind (sie stammen aus „Martha“, viele Opern waren noch nicht gemeinfrei), rückt Hollywood der Hochkultur der Alten Welt mit der üblichen Mischung aus liebevoller Hemdsärmeligkeit und blühender Fantasie zu Leibe. Klassische Klaviermusik wird zu großen Arien oder dramatischen Chorsätzen umarrangiert. Weiterhin hat der musikalische Leiter Edward Ward noch ein Thema komponiert, das als Liebesduett und in Form eines Klavierkonzertes zu hören ist (als jenes Konzert, das vom titelgebenden Phantom verfasst wurde): „Lullaby Of The Bells“. Es wird auch im Vorspann gespielt.

Doch für ein Musical präsentierte der Film seine Songs nach Meinung der Kritiker nicht promiment genug. Bereits die Eröffnungsnummer – das französisch übersetzte „Porter-Lied“ aus „Martha“ – spielt nur im Hintergrund; im Vordergrund werden wir auf angemessen spielerische Weise mit dem Theaterbetrieb und den wichtigsten Figuren bekanntgemacht: dem großen Sänger Anatole Garron, der heimlich mit der Kollegin Christine DuBois (noch im Bewegungschor) flirtet, seinem Nebenbuhler, dem Gendarm Raoul de Chagny, der wie üblich zu spät kommt und nur von der Seitenbühne aus zusieht („Ich komme auch nicht wegen der Oper!“ – „Wie üblich.“), und dem falsch spielenden Geiger Erik Claudin im Orchestergraben. Tudor Williams, den Sänger der folgenden Arie „Mag der Himmel euch vergeben“, bekommen wir überhaupt nicht zu Gesicht. Stattdessen wird bereits der mächtige Kronleuchter ins Bild gesetzt. Auch während der übrigen musikalischen Darbietungen dreht sich das Rad der Handlung unablässig weiter – was sich für ein Bühnenmusical auch so gehört, aber dem Film zum Vorwurf gemacht wurde.
Ich, dem all diese Regeln noch nichts sagten, war entzückt davon, wie selbstverständlich mir diese Zutaten serviert wurden – zumal ein kauziger Humor alles zusammenhält, der Musicals und Horrorfilmen gleichermaßen wohltut.

Dieser Film zeigte mir den Platz, auf dem ich mich musikalisch stets am wohlsten gefühlt habe: genau zwischen U und E.
Als Christine die von Erik betäubte Konkurrentin Mme Biancarolli auf der Bühne vertritt, erklingt eine Arie, die auf Chopins „Noctune in E-dur“ zurückgeht.
Die Oper „Amour et Gloire“ beginnt mit Chopins „Polonaise“. Später im Film wird Nelson Eddy in der Oper „Le Prince de Caucasie“ per Kutsche ein Tartarencamp besuchen. Er trägt – wie auch der Chor – eine orientalische Halbmaske und trägt eine russische Arie vor, die auf Tschaikowskis 4. Sinfonie beruht. (Während Eddy mittels eines gekonnten Peitschenschlags ein Tanzmädchen einfängt, beginnt unbemerkt das Phantom am Kronleuchter zu sägen, der zum Schluss der Darbietung in den Orchestergraben kracht.)
Schließlich wird das Concerto des entstellten Geigers Erik aufgeführt, um ihn aus seiner Katakombe zu locken. Franz Liszt (Fritz Leiber) nimmt dafür am Flügel platz.

Als ich las, dass die klassische Musik, die wir heute hören, weitaus langsamer gespielt wird, als es der Aufführungspraxis ihrer Entstehungszeit entspräche, musste ich an meine erste Opernplatte denken. Ein ähnliches Gefühl mich befallen, als ich mir – beflügelt von Arthur Lubins „Phantom der Oper“ – „Martha“ anhörte, den großen Querschnitt von 1960. Ich brauchte eine Weile, bis ich mich an das im Vergleich zum Film gemächliche Tempo gewöhnt hatte. Doch schon dort hätte es wohl ein wenig flotter sein dürfen. Als Nelson Eddy den fertigen Film sah, fand er das „Porter-Lied“ zu langsam. „Wenn alles vorbei ist, triffst du viele, die dir das erzählen können“, beklagte er sich. „Es wäre zu schön, wenn es mal jemand schon während der Dreharbeiten bemerken würde.“

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* Siehe dazu auch https://blog.montyarnold.com/2015/05/30/the-man-you-hate-to-hate/

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