Eine Urlaubsgeschichte
Fortsetzung vom 4.2.2021
Dieser rätselhafte Exot stammte mit Sicherheit nicht von der Insel – hier gab es ja fast nur deutsche Touristen. Seine Anwesenheit auf diesem schlichten Sitzmöbel war ein Zeichen des Himmels. Da ich nicht die Absicht hatte, meine Familie zu verlassen, würde ich nie wieder allein auf Reisen gehen können. Und noch einmal würde mir Klaus-Uwe nicht die Freude machen, in den Ferien Zahnschmerzen zu bekommen. Der enigmatische Sitzriese war vielleicht meine letzte Chance, vor Ort meinen Horizont zu erweitern.
Ich sah ihn mir unter diesem Gesichtspunkt noch einmal genauer an. Zum Glück befand ich mich leicht schräg hinter ihm, sonst wäre es mir längst peinlich gewesen, ihn so lange anzustarren.
Jetzt gilt’s, dachte ich.
Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich nicht wenigstens herausbekam, woher er stammte. Mit Englisch kommt man ja überall durch, einen Versuch war es also wert. Das Hotel war in Sichtweite. Susanne und der Kleine würden mich schon finden, wenn sie mich leicht schräg von hinten auf der Bank entdeckten. Ich beschloss, mich – wenn er nichts dagegen hatte – zu ihm zu setzen und etwas mit ihm zu plaudern.
Langsam, aber festen Schrittes näherte ich mich dem schweigenden Nippesgötzen. Vielleicht war er ja ein pakistanischer Distriktrichter auf Urlaub … oder ein verbannter Prinz.
Ich deutete eine kleine Verbeugung an und sagte: „How do you do, Sir? May I join you?“
Sein großflächiges, faltenfreies, leicht gelbliches Gesicht verzog sich irritiert. „Watt?“ antwortete er. „Nu sprechense doch deutsch mit mir!“
Zwei Dinge waren sofort klar: er hatte mich augenblicklich als deutschen Urlauber erkannt, und er war niemand, mit dem sich mein Horizont erweitern ließ.
“Ich … Sie … ich hatte …“, stammelte ich, und da mir so schnell nichts Besseres einfiel, blieb ich einfach bei meinem zurechtgelegten Text, den ich nun glücklicherweise nicht erst zu übersetzen brauchte.
“D-darf ich mich zu Ihnen setzen?“ fragte ich.
“Klaro, die Bank gehört mir ja nicht!“
Ich setzte mich zu ihm.
“Na, das ist ja dufte, hier … am anderen Ende der Welt … einen … einen Landsmann zu treffen.“ (Ich merkte schon, ich musste den Text doch ein wenig abändern.)
Er lachte. „Ende der Welt? Dolle Umschreibung für die Balearen, dat hätte mir mal einfallen sollen!“
“Tja, Sie verströmen … ein bisschen weite Welt. So rein optisch …“
Er lachte leicht verkniffen.
“Das hab ich schon oft gehört. An jeder Grenze, bei jeder Passkontrolle muss ich mir diese Sprüche anhören. Wo ich denn herkäme, so wie ich aussehe … – Ein Glück, dat wer jetz’ im Schengenraum leben. … Ich bin ein Hückeswagener Jung! Dritte Generation. Kann’s auch nicht ändern!“
“Wer hätte das gedacht? Und nun machen Sie ein bisschen Urlaub …“
“Sie sind ein Blitzmerker!“
“Mal ganz allein. Ohne die bucklige Verwandtschaft.“
Er warf mir einen grimmigen Blick zu.
“Eigentlich nicht. Die Mischpoke ist nicht zu sehen, aber das täuscht. Eigentlich hab sie mit!“
Ich wusste nichts mit dieser Bemerkung anzufangen, aber es hätte nicht sehr aufgeweckt ausgesehen, wenn ich direkt nachgefragt hätte. Außerdem würde ich es schon noch rausfinden, wenn ich ihn einfach ein bisschen reden ließ.
“Im Augenblick … sind Sie also allein.“
Er lächelte versonnen.
“Ja. Ist ein bisschen wie damals. Bei meinem ersten Trip. – Sie wissen, was ein Trip ist?“
“Öööh … ja, glaub’ schon … Man fährt irgendwo hin …“
“Man fährt alleine irgendwo hin! Ohne die Familie.“
Er wechselte die Pobacke und setzte neu an.
“Nach dem Tod meiner Frau und dem Auszug meiner Tochter – das passierte Schlag auf Schlag – hab’ ich in Fulda ein neues Leben angefangen. Ich hab mir eine kleine Mietwohnung in einem der Hochhäuser auf dem Frauenberg genommen …“
“Warum denn ausgerechnet Fulda?“
“Reine Sentimentalität. In Fulda … war ich zum ersten Mal besoffen.“
“Aha?!?“
“Ich wollte mit fünfzehn mal weg von zuhaus, in die Stadt. Ein Trip eben! Aber ich hab mich nicht allein nach Wuppertal getraut, und das hätte ich auch gar nicht gedurft. Mein Bruder hatte gerade eine Lehre in Fulda angefangen, und nun wohnte er mit einem anderen Typen in einer WG zusammen. Da konnte ich auf dem Sofa pennen … War ein dolles Wochenende. Naja, sowas prägt.“
Okay, so war er also auf seine alten Tage nach Fulda gezogen.
“Eine Wohnung im neunten Stock. Zum ersten Mal im Leben hatte ich sowas wie Aussicht. – Kaum drei Monate später hat meine Tochter angefangen zu quengeln: ‚Wat willse denn alleine da? Zieh doch zu uns! Manni meint auch …’“
“Das ist doch nett … von Manni“, wandte ich ein. „Irgendwie fürsorglich!“
“Ja, das hört sich vielleicht so an, aber das war doch alles Lug und Trug. Ich und die Annette, wir konnten uns ja noch nie ausstehen. Inzwischen ist es mir wieder eingefallen, aber damals muss ich es irgendwie verdängt haben, und vielleicht dachte ich ja – ich weiß auch nicht – das würde sich alles einrenken. Man kann ja auf Augenhöhe zusammenleben, zwei erwachsene Menschen in einer Wohngemeinschaft – so wie mein Bruder damals mit dem anderen Typen …“
“Das geht vielleicht mit anderen Typen“, rutschte es mir heraus. “Aber Vater und Tochter bleiben doch immer Vater und Tochter.“
Der alte Herr nahm wieder diese feierliche Haltung an, die ich von weitem so gründlich missverstanden hatte. Mit der Würde eines Exilmonarchen sagte er: „Da habense recht, aber damals hat mit dat keiner so deutlich gesagt!“
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