Die schlechteste Lesung der Welt

Fortsetzung vom 28.5.2022

Vor Kurzem habe mich ich an dieser Stelle erkühnt, das am besten gelesene Hörbuch aller Zeiten zu benennen. (Ich bereue es nicht!) Inzwischen bin ich auf das Gegenstück dazu gestoßen.
Ich fand es in 40 Teilen im aktuellen Mediatheken-Angebot der ARD und werde es hier nicht namentlich nennen, um keinen Unrat über eine zeitgenössische Kollegin auszuschütten. (Ich bin mit dem Werk der Schauspielerin, die hier zu hören ist, übrigens nicht vertraut. Möglicherweise ist sie in dieser Funktion großartig, aber es zeigt sich immer wieder, dass Schauspieler nicht automatisch Vorleser sind.) Der Titel ist auch nebensächlich, da diese Lesung in ihrer hochprofessionellen Missratenheit so typisch ist, dass ich sie gut aufbewahren werde!

Dass es sich diesmal um eine Sprecherin (Spielalter: mittlere Jahre) handelt, passt insofern ins Bild als schlechte Vorleserinnen es immer auf die gleiche Art schlecht machen, während schlechte männliche Vorleser eine Vielzahl von Marotten entfalten – sie lehnen sich sozusagen individuell etwas weiter aus dem Fenster und scheitern ggf. noch spektakulärer.

Ich habe es bei fünf konzentrierten Anläufen (den längsten habe ich 25 Minuten durchgehalten) nicht geschafft, dieser Lesung zu folgen. Die Gründe dafür sind mit Händen zu greifen: die Interpretin ist maximal distanziert, und diese Haltung wird ohne die geringste Variation durchgehalten. Auch die Pausen zwischen den Sätzen fühlen sich immer exakt gleich an. Nicht einmal der Lautstärke gibt es auch nur einen Anflug von Dynamik. Auf diese Weise entsteht ein Eindruck völliger sozialer Kälte, die man als Zuhörer nach kurzer Zeit persönlich nimmt: man fühlt sich unwillkommen. Selbstverständlich passt diese Stimmung zeilenweise hin und wieder rein zufällig zum Inhalt – etwa, wenn es darum geht, dass sich ein kleines Mädchen von seiner Familie nicht verstanden fühlt -, aber das hilft nicht weiter, wenn sich der ganze Text so anhört. Das Konzept des Vortrags besteht ausschließlich aus Technik, und es fehlt jeglicher persönliche Ton. Es ist schwer, diesen menschlichen Teil der Performance zu dosieren (klar, es geht ja hier schließlich um ein seriöses, erlernbares Handwerk) – ihn schlichtweg auszulassen, macht das Ergebnis unbrauchbar.

Wenn es irgendwann Sprech-Apparate geben wird, die in der Lage sind, sich tatsächlich wie Menschen anzuhören (was durch Navigationssysteme bisher auf anschauliche Weise widerlegt wird, obwohl diese ja sogar mit menschlichen Klangbausteinen arbeiten), dann wird sich das so anhören wie diese Lesung.

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