Die Welt ist abgeworfen

Nach mehr als drei Jahren nehme ich nun gewissermaßen Abschied von einem Buch, das mich bis zu seinem sinisteren Finale einmal wöchentlich begleitet hat. Von meiner fähigsten Prima-Vista-Schülerin Julia ließ ich mir in jeder Stunde 12 Seiten vorlesen, bis der mächtige Schinken bezwungen war. Es hat uns beide verzückt, wie zuverlässig die Autorin und nicht-akademische Philosophin Ayn Rand in jeder Passage von „Atlas wirft die Welt ab“* an buchstäblich jedem Lesetag das Tagesgeschehen kommentierte – die Flüchtlingskrise, Donald Trump, die Corona-Pandemie, die FDP, Boris Johnson, die Inflation, Armin Laschet, Putins Einmarsch in die Ukraine, die Energiekrise undnochundnoch.
Viele Schlussfolgerungen der beinharten (aber verkappt romantischen) Objektivistin und Kapitalismusverteidigerin Rand (einer russischstämmigen Amerikanerin) sind inzwischen überholt, denn hellsehen konnte sie (im Gegensatz zu meinem anderen Lieblingsphilosophen Marshall McLuhan) nicht. Doch ihre Überzeugungen sind auf dem Teppich bleibend kaum zu widerlegen, ihre Kritik ist berechtigt und ihr Ekel vor gewissen politischen Programmen wird vor allem von der Sorge um unsere Demokratie angetrieben. Und eine Demokratie braucht ein Volk, das halbwegs zufrieden und selbstbestimmt leben kann – auch diese Binsenweisheit steht bei ihr niemals zur Diskussion.

Spider-Man wirft die Welt ab – wenige Monate nach dieser vielgerühmten Nr. 33 der Serie „Amazing Spider-Man“ verschwand der Zeichner Steve Ditko so spurlos wie die Charaktere im Roman „Atlas Shrugged“.

Im Internet findet sich übrigens kaum ein ausgewogener Kommentar zu Rand und ihrem Werk. Ayn Rand ist eine wohlfeile Hassfigur, obwohl ihr in den USA eine ungebrochene Popularität und Diskurswürde bescheinigt wird.
Auch ihr anderer großer Roman „Der ewige Quell“ ist eine gewaltige Schwarte und entsprechend wenigen Menschen zugänglich. Dabei lohnt die Lektüre – trotz aller Redundanz in den gleichsam fabelhaften Dialogen, trotz einiger Predigten, von denen die längste im „Atlas“ drei Stunden dauert (was in der Erzählung sogar korrekt mitgestoppt wird).
Die Geschichte um das mysteriöse Verschwinden wichtiger Männer der Wirtschaft und der Forschung, bis die USA schließlich am Abgrund stehen, ist ein Thriller, der sich als Grundlage einer Serie weitaus besser ausnähme, als die nächste Fantasy- oder Superheldensause (obwohl auch hier ein phantastisches Element enthalten ist). Die Protagonistin Dagny Taggart ist in ihrer unverbissenen Auflehnung gegen die Männerwelt, in der sie sich zu behaupten hat, eine aprilfrische weibliche Heldenfigur wie sie allenfalls von Stieg Larssons „Lisbeth Salander“ überflügelt wird. Auf den letzten Seiten kommt es zu einem Showdown, der vor meinem inneren Auge von Steve Ditko illustriert wurde, dem Miterfinder des „Spider-Man“ und glühenden Verehrer der Ayn Rand und besonders ihres 1957 erschienenen Romans „Atlas wirft die Welt ab“.

Julia und ich sind ein bisschen traurig, aber vor allem glücklich über diese Erfahrung. In den nächsten Monaten lesen wir erst einmal viele möglichst unterschiedliche Kurzgeschichten.
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* Siehe dazu https://blog.montyarnold.com/2020/10/20/erwischt-ayn-rand-und-die-pulps/

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