Ixen für Anfänger: Willkommen am Schauplatz

Besonders in Kurzgeschichten wurde es kultiviert, gleich mit dem ersten Satz mitten ins Geschehen hineinzuspringen. Je gescheiter der Autor, je eleganter sein Text ist, desto unauffälliger ist der unweigerliche folgende Nachtrag, „was zuvor geschah“, wo wir uns befinden, mit wem wir es zu tun haben etc., in die nächsten Absätze eingewoben.
Bei Romanen und längeren Erzählungen darf sich der Text zu Beginn Zeit lassen und uns mit einer bequemen (gleichwohl hoffentlich nicht langatmigen) Vorrede in der Geschichte willkommen heißen. In unseren Tagen sind solche Buchanfänge etwas aus der Mode gekommen. Aktuelle Romane folgen gern dem Modus der Kurzgeschichte. Sie werden mit einer reißerischen Szene eröffnet, danach heißt es plötzlich „Eine Woche zuvor“ o.ä. – diese Methode gehört auch in Filmen und Serien längst zum Standard.
Doch machen wir uns nichts vor: solches Tun deutet auf eine Unsicherheit der Macher hin, auf eine Verlegenheit. Die Frage steht im Raum, ob die Geschichte wirklich so bestrickend ist, dass wir sie nicht besser mit einem Knalleffekt betreten, dann abbremsen, um schließlich doch ganz von vorne anzufangen. In jedem Fall ist die Teaser-Struktur ist längst zur Masche geworden. Schon allein deshalb wäre ein behaglicher Einstieg als Abwechslung begrüßenswert.

Von den alten Meistern, die die gemächliche Art des Openings schätzen, will ich zwei beispielhaft zwei anführen, die im 20. Jahrhundert tätig waren.
Truman Capote beginnt seinen berühmten Tatsachenroman „In Cold Blood“ („Kaltblütig“), indem er die weite Ödnis der Landschaft und die Harmlosigkeit des Schauplatzes vor uns ausbreitet. Es ist einer der berühmtesten Romananfänge überhaupt:

Das Städtchen Holcomb liegt auf der Weizenhochebene von West-Kansas, eine weite einsame Gegend, die selbst für die anderen Kansaner „hinter dem Mond“ liegt. Das Land, gut hundert Kilometer östlich der Grenze von Colorado, hat mit seinen harten blauen Himmeln und seiner klaren Winterluft eine Atmosphäre, als wäre man hier schon im Fernen Westen, nicht mehr im Mittelwesten.

Als uns das Leben in der Kleinstadt in aller Ausführlichkeit geschildert  wird, müsste uns ein Gefühl der Tristesse befallen, wüssten wir nicht längst, dass das Hereinbrechen größten Leides aus der Welt da draußen (jenseits von Holcomb und Kansas) unweigerlich bevorsteht. Wir sind vom Autor einfach etwas früher dort abgeliefert worden, um die Ruhe vor dem Sturm auskosten zu können – oder vielmehr, um sie bang mit bösen Vorahnungen zu fristen.
Das Romankapitel, das diesen zweieinhalb Seiten folgt, funktioniert in seiner Alltäglichkeit nach dem selben Prinzip. Der Titel „Die sie als letzte sahen“ macht das Banale indes bedeutsam und verstörend. Fast alles, was hier geschieht, geschieht zum letzten Mal. Und die Beteiligten ahnen nichts davon. Capote befolgt die Hitchcock’sche Regel des Wissens, das wir den Charakteren voraushaben.

Ein halbes Jahrhundert zuvor ging ein phantastischer Erzähler (der zuzeiten von „In Cold Blood“ noch nicht als Literat angesehen wurde) in vielen seiner Erzählungen genauso vor. Die Horrorgeschichten von H. P. Lovecraft spielen zumeist in einem abgelegenen Landstrich, der uns zu Beginn ausführlich vorgestellt wird. Wie schon bei Capote ist die Umgebung so bedeutsam, weil sie ihre Bewohner geprägt hat. Indem wir ihre Atmosphäre in uns aufnehmen, erfahren wir etwas über die Mentalität der Menschen, die wir in Kürze treffen werden.

Für den Interpreten solcher Texte bedeutet das: er sollte sich besonders viel Zeit lassen und ein noch behaglicheres Tempo wählen als ohnehin. Damit gibt er die zutreffende wie trügerische Botschaft aus: wir können es uns gemütlich machen – auf dem Weg ins Verderben.
Das folgende Textbeispiel eröffnet „Das Grauen von Dunwich“ von H. P. Lovecraft.*

Wenn der Reisende im nördlichen Zentral-Massachusetts an der Kreuzung der Mautstraße nach Aylesbury hinter Dean’s Corners die falsche Abzweigung nimmt, gerät er in eine einsame und merkwürdige Gegend. Das Gelände steigt an, und die von Dornengestrüpp überwachsenen Steinmauern drängen sich dichter und dichter an die Windungen der zerfurchten, staubigen Straße heran. Die Bäume der Waldgürtel, die man immer wieder durchfährt, wirken zu groß, und die Wildpflanzen, Brombeerbüsche und Gräser wuchern so üppig, wie man es in besiedelten Gegenden selten findet. Zugleich gibt es erstaunlich wenig bestellte Felder, und wenn, dann wirken sie merkwürdig unfruchtbar, während die spärlichen, weit in der Landschaft verstreuten Häuser einen überraschend gleichförmigen Eindruck von Alter, Ärmlichkeit und Verfall hinterlassen. Ohne zu wissen, warum, zögert man, eine der verkrümmten, einsamen Gestalten, die man hier und da auf den abschüssigen, geröllübersäten Wiesen entdeckt, nach dem Weg zu fragen. So still und verstohlen wirken diese Gestalten, dass man irgendwie das Gefühl hat, man befinde sich in Gegenwart verbotener Dinge, von denen man sich besser fernhält. Wenn die Straße dann mit einem Mal ansteigt und über den dichten Wäldern die Berge in Sicht geraten, nimmt das Gefühl seltsamen Unbehagens noch zu. Die Berggipfel sind zu abgerundet und symmetrisch, um anheimelnd und natürlich zu wirken, und manchmal zeichnen sich gegen einen außergewöhnlich klaren Himmel die sonderbaren Kreise großer Steinsäulen ab, mit denen die meisten von ihnen gekrönt sind.

So geht das noch einige Seiten weiter, ehe wir die ersten Menschen aus der Nähe sehen.
Man beachte die Pikanterie, die  dieses zunächst ereignislose Stilleben aus der Vitalität seiner Metaphern bezieht. Die Mauern, die seit ewigen Zeiten still und starr an ihrem Platze sind, scheinen näherzukommen und „drängen dichter heran“. Die Vegetation „wuchert“, so als wäre sie eine verhexte Schlingpflanze, deren Tentakel nach uns greifen. Die Bewegung entsteht durch eine Perspektive, die sich durch unsere Fortbewegung verändert. Richtig: wir sind ja zu Beginn falsch abgebogen …

Der nach wie vor dem Schund zugerechnete Verlagsschreiber Lester Dent* wirkte zwischen den Kollegen Lovecraft und Capote. Er hat eine solche literarische Kamerafahrt zum Ort des bevorstehenden Geschehens in einem Absatz untergebracht.** Das Prinzip ist das gleiche:

Die Fantan Road begann mit prächtigen Wohnhäusern und einer neuen Asphaltdecke, wurde aber nach der Nummer tausend immer schäbiger und erinnerte in den Sechstausendern an den Alptraum eines übereifrigen Grundstücksspekulanten. Schließlich hörte die Fahrbahndecke ganz auf, die Straße versickerte und bestand nur noch aus zwei tief eingekerbten Räderspuren. Sogar die Telefonmasten, die die Straße an einer Seite säumten, waren verrottet und verschieden hoch. Hier gab es kaum noch Häuser, und es mutete seltsam an, dass sich überhaupt noch jemand die Mühe gemacht hatte, die vereinzelten Baustellen und Ruinen zu nummerieren.
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* Diese Übersetzung ist dem ersten Band von „H. P. Lovecraft – Das Werk“, S. Fischer Verlag / TOR 2017, entnommen.
** Siehe https://blog.montyarnold.com/2018/10/12/doc-savage-der-bronzemann-die-deutschen-taschenbuecher/

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