Nichts als die Wahrheit: Der Kommunismus in der Science-Fiction

betr.: 144. Geburtstag von Josef Stalin

Dass der russische Mensch gern in Anspruch nimmt, sein Volk habe alles Wert- und Sinnvolle erfunden, was die Menschheit hervorgebracht hat, ist ein altes Klischee. Es war sogar, wie alle Klischees, recht amüsant – bis Wladimir Putin die Ukraine überfiel, sie auszulöschen und in der Folge allerlei Wert- und Sinnvolles nachträglich dem russischen Kulturschatz einzuverleiben, was selbst nach seiner eigenen aufrichtigen Erkenntnis aus der Ukraine stammt.
Die Science-Fiction ist eine solche vielen als russische Schöpfung geltende Erfindung. Kommt sie tatsächlich von dort? Ich will in dieser Sache nicht spoilern, aber eins steht fest: aus dem Ostblock kommen viele der besten Science-Fiction-Erzählungen. Dieses Genre profitiert ungemein davon, dass der auf diesem Gebiet tätige Autor, Dramatiker oder Regisseur von einem totalitären System umgeben ist, denn wenn er von seinem System erzählen will, bleibt ihm gar nichts anderes übrig als den Text in eine fremde Welt zu verlegen, ihn auf einem anderen Planeten anzusiedeln. Täte er das nicht, bekäme er rasch Ärger mit der Zensur, die in Diktaturen obligatorisch ist. Das gilt auch dann, wenn der Ausdruck „Science-Fiction“ nicht dafür herhalten darf (zu angelsächsisch) und man im Russischen von der „wissenschaftlichen Fantastik“ spricht.
Wladimir Kaminer hat in einem Essay* nicht nur dieses Prinzip erläutert, er erklärt auch in wenigen Zeilen, was Kommunismus eigentlich ist. Und zwar so, dass ihn
wirklich jeder versteht. (Bertolt Brecht dachte ja irrigerweise, das geschähe von ganz allein …)

Die Sowjetunion war als Zukunftsprojekt entstanden. Das erklärte Ziel war es, im Kommunismus zu landen, in einer Gesellschaft der Glücklichen, in der jeder nach seinen Möglichkeiten gibt und nach seinen Bedürfnissen bekommt. Das Land war ziemlich verwahrlost, aber das reale Leid störte nicht. Was hatte es für einen Sinn, sich um das tägliche Brot zu kümmern, wenn wir kurz davorstanden, den Kommunismus zu erreichen, wo sich alle Probleme von allein lösen werden? „Unsere Kinder werden im Kommunismus leben“, hat W. I. Lenin gesagt.
Die Führer des Landes (…) gaben klare und unmissverständliche Anweisungen. „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes.“ Gesagt, getan, das Land wurde elektrifiziert, nichts geschah. „Wir brauchen hunderttausend Traktoren, das Stahlpferd wird die alten Zossen der Bauern ersetzen und uns in den Kommunismus fahren“, hieß es in den Zeiten der Industrialisierung unter J. W. Stalin.
hat später die lenin’sche Formel ausgeweitet: „Der Kommunismus kommt nach der vollständigen Elektrifizierung und Chemisierung des Landes“, sagte er. Er wollte unbedingt, dass bis nach Sibirien überall Mais wächst. „Aber spätestens 1980“, fügte er hinzu. Das ganze Land strengte sich an, um den Traum endlich Realität werden zu lassen, doch nichts geschah; das widerliche Schwein des Lebens holte uns immer wieder ein. Die ersten Zweifel kamen auf, sie wurden in der „wissenschaftlichen Fantastik“ ausgedrückt.


* Im Vorwort zur Neuübersetzung des Romans „Stalker“, Heyne Verlag 2021, das vollständig hier zu finden ist: https://www.bic-media.com/mobile/mobileWidget-jqm1.4.html?bgcolor=E9E8E8&showExtraDownloadButton=yes&isbn=9783641260781&buttonOrder=ebook-book-audio-video&https=yes&socialSelfBackLink=yes&iconType=BICgrey&iconTypeSecondary=BICgrey&lang=de&fullscreen=yes&jump2=0&flipBook=no&openFSIPN=yes&resizable=yes&template=rhservice&buyUrl=https://www.penguinrandomhouse.de/watchlist/add/571617.rhd
** Siehe https://blog.montyarnold.com/2016/08/14/hosen-runter-mit-bertolt-brecht/

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