Die wiedergefundene Textstelle: Kurt Tucholsky und die resistente Mentalität der Deutschen

Einführungstext zu einer Tucholsky-LP, verfasst 1974 von Hans Günter Martens:

„Die Deutschen glauben, wenn einer Witze macht, er sei ein Schaumkopf. Und wissen nicht, wie lange man ernst gewesen sein muß, um einen guten Scherz zu machen …“                   Tucholsky, 1. September 1918

Der Friedhof liegt ein wenig außerhalb des Städtchens, über dem Mälarsee. Man geht vom Schloß Gripsholm dorthin gute zwanzig Minuten, und es ist nicht mehr viel Zeit bis zur Rückkehr unseres kleinen Dampfers nach Stockholm. Aber wir hatten diesen Ausflug nach Mariefred nicht nur gemacht, um Gripsholm zu besichtigen, eins der schönsten Schlösser Schwedens, sondern auch, um Kurt Tucholsky zu besuchen, der auf dem idyllischen Friedhof von Mariefred begraben liegt.
An diesem Samstagnachmittag im Hochsommer war der Friedhof einsam. Wir hatten geglaubt, das Grab habe einen Ehrenplatz, müsse jedenfalls schnell zu finden sein, aber wir hatten uns getäuscht. Auch ein junger Mann, der das Grab seiner Eltern besuchte und zum ersten Mal nach langer Zeit wieder in sein Heimatstädtchen gekommen war, konnte uns nicht helfen. Tucholsky? Der deutsche Schriftsteller? Ja, den Namen kenne er, der sei hier begraben, aber er wisse nicht wo. Das müsse hinten, im älteren Teil des Friedhofs sein. Freundlich, wie die Schweden sind, irrte er mit uns durch die Gräberreihen, vorbei an den verewigten Kleinstadt-Honoratioren, pensionierten Beamten, Kapitänen, Handwerkern, Großbauern – den Ringdahls, Björks, Gustafsons und Petersons. Ein würdiger Greis, einer der ältesten Ureinwohner sozusagen, der schlurfend, am Stock, durch die hintere Friedhofspforte tappte, wies uns endlich den richtigen Weg zu den „tyske skriver“ …
Vor dem Grab verstanden wir gar nicht, warum wir es nicht auf Anhieb entdeckt hatten – denn es ist eigentlich leicht zu finden. Es liegt unter einer mächtigen Eiche, und auch die wuchtige Steinplatte hebt Tucholskys Ruheplatz von denen seiner schwedischen Nachbarn ab. Auf der Platte: Name, Daten und Goethe-Worte, Schlußverse aus dem zweiten Teil des „Faust“: „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis“. Die Platte – übrigens verkehrt aufgelegt, so daß der Tote darunter auch jetzt noch „aus der Reihe fällt“ – ist erst nach dem Krieg dazugekommen. In den Jahren davor hatte man absichtlich alles unkenntlich gelassen. Tucholskys letzte Lebensgefährtin, die mit ihm die letzten schwedischen Exiljahre in Hindås  bei Göteborg verbrachte, war in steter Sorge, der Haß des Faschismus, der Tucholsky die Heimat so gründlich verleidet hatte, könnte womöglich auch vor seiner letzten Ruhestätte nicht Halt machen.
Heute kommen Tucholskys Landsleute mit anderen Gefühlen hierher. Es kommen nicht viele, sagte der Greis aus Mariefred, aber die kommen, bringen alle Blumen mit und sie stehen immer lange vor dem Grab … Auch wir gingen erst, als unten vom See ungeduldig der Dampfer tutete. Wir konnten uns nicht so schnell losreißen von diesem Platz, der mancherlei Gedanken in Bewegung setzt.

Da ist ein Mann begraben, der seine Heimat freiwillig verließ, weil er mit seinen Landsleuten nicht einverstanden war und nicht mehr unter ihnen leben konnte, ein Mann, den man zur Strafe für diese Haltung und für seine Arbeit offiziell „ausbürgerte“, nachdem man seine Bücher schon öffentlich verbrannt hatte. Der Mann starb an Heimweh und am Widerwillen gegen seine Heimat zugleich. Er wollte sterben. George Grosz, Freund und Mitstreiter Tucholskys, hat die Unausweichlichkeit dieses Entschlusses in seinen Lebenserinnerungen lapidar beschrieben: „Von Schweden aus, wohin er sich schon 1929 zurückzog, schaute er in die Zukunft. Und die war so schauerlich, daß er es vorzog, nicht mehr mitzumachen.“ Und der Selbstmörder*, der Mann ohne Heimat, liegt unter einer deutschen Eiche und unter deutschen Dichterworten. Das ist paradox und logisch zugleich.
Logisch sind diese Symbole, weil hier ein Mann begraben liegt, der sein Vaterland mehr, tiefer, schmerzlicher liebte als all seine Zeitgenossen, die dies Vaterland für sich gepachtet hatten und ihr Treuebekenntnis laut durch die Straßen grölten. Es war diese Liebe zu seinem Land, die Liebe zu seinen Bewohnern, die ihn die falschen Patrioten, die Verächter der Menschenrechte kritisieren ließ. Er bekämpfte sie mit einem leidenschaftlichen Elan ohnegleichen, in seinen Büchern, in seinen Artikeln, ja, noch in seinen Chansons – kein Dichter, „nur“ ein Schriftsteller, ein Journalist, der flüchtige Tagesarbeit verrichtete, der aber auch die deutsche Sprache beherrschte wie nur wenige.
Paradox muten nun Eiche und Goethe über diesem Grab an, weil sie einem Mann klassische Attitüde verleihen, der so gar kein Talent zum Klassiker hatte. Dazu war er Zeit seines Lebens viel zu unbequem. Und auch heute, bald vierzig Jahre nach seinem Tode läßt er sich noch nicht einordnen. Er ist ein ganz unmoderner Autor. Denn die Verhältnisse und die Verhaltensweisen, die er vor fünfzig Jahren kritisierte, sie sind nicht mehr so. Sie sind heute anders. Aber trotz der Metamorphosen der deutschen Seele, von denen Tucholsky zwei erlebt hat, die mit den Jahreszahlen „1918“ und „1933“ zu markieren wären und an deren zweiter er zugrunde ging, trotz dieser Metamorphosen hat sich die deutsche Mentalität nicht entscheidend geändert. Das Psychogramm der Autoritätsgläubigen im Abschnitt „Der Kontrollierte“, es stimmt heute wie gestern. Und darum ist Tucholsky in vielen seiner Prosatexte und Verse ganz modern. Die in Nostalgie schwelgenden Zwanzigjährigen reihen ihn nach der Lektüre des Bilderbuches für Verliebte mit dem Titel „Rheinsberg“ als heimlichen Romantiker ein – der älteren Generation dagegen scheint er immer noch, oder schon wieder, als Satiriker verdächtig, weil zersetzend. Denn Satire – das ist auch eins dieser deutschen Vorurteile, unter denen Tucholsky zu leiden hatte – wird hierzulande ja auch heute noch als etwas Negatives angesehen. Die Deutschen, zu deren Tugenden doch angeblich die Gründlichkeit gehört, haben sich wohl mit Satire nie genau genug beschäftigt. Sonst hätten sie längst merken müssen, daß der Satiriker im Tiefsten seines Herzens Moralist sein muß. „Was darf die Satire?“, hat Tucholsky einmal provozierend gefragt, um sich selbst die Antwort geben zu können: „Die Satire muß übertreiben und ist in ihrem tiefsten Wesen ungerecht. Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird.“

Tucholsky, der sich im Lauf seiner Tätigkeit als Journalist vier Pseudonyme zugelegt hat – „Eine kleine Wochenschrift wie die ‚Weltbühne‘ mag nicht viermal denselben Mann in einer Nummer haben!“ – hat auch für den Leser von heute viele Handschriften. Daran liegt’s, daß vier Leser, die Tucholsky schätzen, beinahe vier verschiedene Autoren meinen können, wenn sie von ihm sprechen. Und daß jedem, der seine Werke gut studiert zu haben glaubt, immer noch ein entscheidendes Kapitel fehlt, um ihn wirklich zu kennen. Auch die beiden Platten dieses Albums enthalten nur Fragmente einer großen Konfession. Sie zeigen, wie amüsant und vergnüglich dieser Autor sein konnte, wie plastisch sein Deutsch ist, wie vorzüglich sich seine Texte zum Vorlesen eignen, wie musikalisch diejenigen seiner Verse sind, die gar nicht zum Singen geschrieben waren. (Denn unter den Titeln, die Hildegard Knef hier singt, ist nur ein Original-Chanson, „In Japan ist alles so klein“, und auch das in einer neuen Vertonung, die alte ist verschollen.) Neben Tucholsky, dem Humoristen, dem Meister des kleinen Feuilletons, dem Kenner der Berliner Seele und des berlinischen Idioms in seinen allgemeinen und besonderen Spielarten, gab es noch einen, den diese Platten vernachlässigen müssen: Tucholsky, der Polemiker, der politische Journalist kommt hier zu kurz.

„Jede Zeile, die ich von Ihnen gedruckt habe, war mir aus dem Herzen gesprochen, denn Sie waren ein wirklicher Kämpfer gegen jegliche Reaktion, gegen jeden Blödsinn der Politiker und gegen jede spießige Gefühlsduselei und so recht ein Mann nach meinem Herzen. Sie, lieber Tucholsky, brauchen wir heute“, schrieb sei Verleger Ernst Rowohlt 1948, als die ersten Bücher des so lange Verfemten wieder erscheinen durften, in seinem „Brief an einen Unvergessenen“.

Wer ist denn dieser Mann, der so schwer zu fassen, von dem so viel zu lernen ist? Der äußere Ablauf seines Lebens ist schnell erzählt.
Kurt Tucholsky wurde geboren am 9. Januar 1890 in Berlin-Moabit. Der Vater war Kaufmann, der Sohn sollte Jurist werden und wurde es auch. Aber schon als 17jähriger, noch vor dem Abitur, veröffentlichte er seine erste schriftstellerische Arbeit, das „Märchen“ vom gekrönten Banausen: „Es war einmal ein Kaiser, der über ein unermeßlich großes, reiches und schönes Land herrschte. Und er besaß wie jeder andere Kaiser auch eine Schatzkammer, in der inmitten all der glänzenden und glitzernden Juwelen auch eine Flöte lag. Das war aber ein merkwürdiges Instrument. Wenn man nämlich durch eins der vier Löcher in die Flöte hineinsah – oh! Was gab es da alles zu sehen! Da war eine Landschaft darin, klein aber voll Leben: eine Thomasche Landschaft mit Böcklinschen Wolken und Leistikowschen Seen. Rezničeksche Damen rümpften die Nasen über Zillesche Gestalten, und eine Bauerndirne Meuniers trug einen Arm voll Blumen Orliks – kurz, die ganze >moderne< Richtung war in der Flöte. Und was machte der Kaiser damit? Er pfiff darauf.“
Dieser knappe, so poetische wie kritische Prosatext, der schon den glänzenden Stilisten verrät, ist ein programmatischer Beginn. Tucholsky studierte in Berlin und Genf, promovierte zum Doktor der Rechte in Jena. 1912 erschien „Rheinsberg“ und brachte ihm ersten Erfolg. 1913 bis 1915 arbeitete er in der Redaktion der „Schaubühne“, aus der später die „Weltbühne“ werden sollte, bei Siegfried Jacobsohn, dem geliebten S. J., der sein Freund und Förderer wurde. 1915 bis 1918 war er Soldat an der Ostfront, zuerst im Baltikum, später in Rumänien. Er brachte es im kaiserlichen Heer immerhin zum Vizefeldwebel. 1918 bis 1920 war er Chefredakteur der satirischen Zeitschrift „Ulk“, dann arbeitete er frei. 1924 ging er als Auslandskorrespondent für die „Weltbühne“ und die „Vossische Zeitung“ nach Paris. Von da an war er nur noch besuchsweise in Deutschland. Nach dem Tod von Jacobsohn leitete er zehn Monate lang die „Weltbühne“, um sie dann Carl von Ossietzky zu übergeben. 1929 siedelte er nach Schweden über, am 23. August 1933 wurde ihm die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt. Im Dezember 1935 nahm er sich das Leben.* 

In seinem „Sudelbuch“, der hinterlassenen Arbeitskladde, findet sich unter den Eintragungen der letzten Lebenstage die Skizze einer Treppe mit drei Stufen. Die Stufen heißen: „Sprechen, Schreiben, Schweigen“. Das ist erschütternd zu sehen. Aber danach noch finden sich ein paar Zeilen, die diese Bitterkeit relativieren, in denen sich Tucholsky ganz heiter und gelöst zeigt. Er wußte schon, daß er schweigen wollte, daß er sterben würde. Und er schrieb: „Wenn ich jetzt sterben müßte, würde ich sagen: Das war alles? Und: ich habe es nicht so richtig verstanden. – Und: Es war ein bißchen laut …“

Diesen Text schrieb der Schauspieler Hans-Günter Martens (1930-2001) im Rahmen der von ihm kuratierten DECCA-Schallplattenreihe „Wort und Stimme“ für die Tucholsky-Doppel-LP „An das Publikum“ (1974). Martens war ein hinreißender Darsteller unangenehmer Menschen – hauptsächlich Bürokraten und Vorgesetzte -, der sich durch seine Nebenrollen in „Kehraus“ und „Pappa ante Portas“ in unseren Mediatheken erhalten hat.
Er wird hier auch deshalb reproduziert, weil er recht informativ, aber sonst nicht mehr ohne weiteres zugänglich ist. Die genannte Plattenreihe wurde niemals und nirgendwie wiederaufgelegt. 

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* Es galt als gesichert, dass Tucholsky sich umgebracht hat. 1993 wurde das von Tucholskys Biographen Michael Hepp angezweifelt. Der wollte nach so langer Zeit Anhaltspunkte für eine versehentliche Überdosierung des Medikaments gefunden haben. Die Idee der unbeabsichtigten Selbsttötung wird dem Publikum einigen Trost gespendet haben.

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