Die Dystopie, die sich nicht traut

betr.: das Multimedia-Phänomen „Die drei Sonnen“

Cixin Lius Science-Fiction-Epos „Die drei Sonnen“ – auch „Trisolaris-Trilogie“ (ab 2007) – erschien zehn Jahre nach dem chinesischen Original auch bei uns. Inzwischen genießt der Roman bei Kritikern und Lesern gleichermaßen Kultstatus, wie es immer so schön heißt. WDR und NDR produzierten gemeinsam eine aufwändige sechsteilige Hörspielfassung, Netflix hat für die Verfilmung ein 200-Millionen-Budget in die Hand genommen.
Als mir einer meiner Schüler den Roman nun zum Abschluss des Kurses schenkte, habe ich diese Bildungslücke geschlossen.

Die Handlung: China zur Zeit der Kulturrevolution. Die Roten Garden verbreiten Angst und Schrecken und lassen bei ihren zahlreichen „Kampf- und Kritiksitzungen“ Akademiker und hochangesehene Intellektuelle, tituliert als Reaktionäre oder Feinde der Revolution, öffentlich umbringen. 1967 wird die Astrophysikerin Ye Wenjie als reaktionäres Element denunziert, verurteilt und zu der abgelegenen Militärbasis „Rotes Ufer“ gebracht, um mit einer kleinen Gruppe von Astrophysikern, Politkommissaren und Ingenieuren ein streng geheimes Forschungsprojekt mitzugestalten. Ihre Aufgabe: Signale ins All zu senden und noch vor allen anderen Nationen Kontakt mit Außerirdischen aufzunehmen. Fünfzig Jahre später wird diese Vision Wirklichkeit, doch was die kosmischen Wesen mitzuteilen haben, ist kein Grund zum Feiern: die Menschheit sei nicht in der Lage, ihre weitere Existenz zu gewährleisten und nur durch eine Unterwerfung durch die fremde Macht aus dem All vor dem Untergang zu retten …

Die Botschaft der Invasoren ist mindestens stichhaltig, und insofern ein toller Plot für einen relevanten phantastischen Roman. Die Verbannung der jungen Ye Wenjie war für mich einer der bewegendsten Momente:

„Ye Wenjie, ich will dir nichts vormachen. Das hier ist nicht die ganz große Chance für dich. Ich habe es mir vom Militärgericht erklären lassen. Obwohl Cheng Lihua nachdrücklich die Höchststrafe fordert, wirst du höchstens zu zehn Jahren Haft verurteilt werden. Wenn du dann noch mildernde Umstände bekommst, sitzt du vielleicht sechs oder sieben Jahre ab. Aber hier …“ Er nickte zur Basis hinüber. „steckst du in einem Forschungsprojekt auf höchster Geheimhaltungsstufe. Bei deinem Status ist es durchaus wahrscheinlich, dass du hier …“ Er hielt einen Moment inne, als wollte er das Summen der Antenne im Wind als dramatischen Effekt nutzen. „… dein Leben lang nicht wieder rauskommst.“
„Ich mache es.“ 

Doch so sehr mich dieses Werk stellenweise amüsiert und gefesselt hat, so sehr ich vereinzelt Freude daran hatte, in die sich auftuenden Scheinwelten abzutauchen, so sehr stört mich etwas, was ich andererseits für eine Quelle des allgemeinen Erfolgs halte. Die Geschichte ist nicht aus einem Guss – was sie durchaus vortäuschen möchte -, sie ist aus einer Vielzahl unzusammenhängender Plots und Genre-Fingerübungen zusammengesetzt. Der Autor schüttet uns die ganze Fülle seines Zettelkastens vor die Füße. Das hat zwei strategische Vorteile: zum einen kann er hier diverse unterschiedlich weit fortgeschrittene Entwürfe verwursten, zum anderen kommt er damit der Aufmerksamkeitsspanne des heutigen Mainstream-Publikums entgegen. Mit seinen Parallel-Universen (oja, darum geht es wieder einmal!) heißt er außerdem die Fans von Computerspielen und Fantasy-Produkten zu Hause willkommen. Es ist ein konzeptioneller Geniestreich – der ausgerechnet bei mir nicht funktioniert. Vielleicht würde er es, wenn er etwas raffinierter konstruiert wäre – und wenn mir die Kultur der ewigen What-If-Storyfragmente nicht längst zum Halse heraushinge. Ich frage mich, wie gut mir eine Kurzgeschichtensammlung auf der Basis dieses Materials gefallen hätte …
Vollends töricht finde ich die Auflösung. Dass der „Sonnenuntergang der Menschheit“, ihre Vernichtung (Rettung?) durch die Außerirdischen, schließlich doch nicht stattfindet, wird uns wie folgt erklärt:

„Ich verstehe sie“, antwortete der Konsul für Wissenschaft und Technik. „Wir haben die erste Nachricht der Terrestrischen gründlich studiert. Am meisten Beachtung verdient ihre Zivilisationsgeschichte. Die menschliche Art entwickelte sich in einem Zeitraum von circa siebzehntausend Jahren von der Jäger- und Sammlergesellschaft zu einer Ackerbaukultur. Von der Jungsteinzeit mit der Erfindung der Landwirtschaft bis zur Dampfmaschine brauchte es einige tausend terrestrische Jahre. Von der Dampflokära bis zur Elektrizität waren es aber nur zweihundert terrestrische Jahre. Dann vergingen nur wenige Jahre, und die Terrestrischen traten ins Atom- und kurz darauf ins Informationszeitalter ein. Diese Zivilisation besitzt die erschreckende Fähigkeit, ihre Entwicklung zu beschleunigen! Auf Trisolaris haben wir so etwas in den vergangenen zweihundert Zivilisationen nie erlebt. Der wissenschaftliche und technische Fortschritt verlief auf Trisolaris immer gleich schnell, wenn nicht sogar mit der Tendenz, sich zu verlangsamen. Die technischen Zeitalter brauchen in unserer Welt im Grunde alle eine gleich lange Entwicklungszeit.“
Der Regent nickte. „Wenn unsere Raumschiffflotte in viereinhalb Millionen Trisolaris-Stunden das Sonnensystem erreicht, hat uns diese Zivilisation auf technischem Niveau aufgrund ihrer beschleunigten Entwicklung bereits überholt. Die Flotte hat dann einen langen Flug, bei dem sie zwei interstellare Staubgürtel durchqueren musste, hinter sich. Bei ihrer Ankunft wird höchstwahrscheinlich nur noch die Hälfte der Schiffe das Sonnensystem wirklich erreichen. Die andere Hälfte wird auf der langen Expedition verlorengehen. Wir werden der terrestrischen Zivilisation nicht gewachsen sein. Das ist also keine Expedition – das ist eine Fahrt in den Untergang.“

Eine überlegene Rasse, die das Prinzip des exponentiellen Wachstums nicht kapiert hat, mag ich mir gar nicht vorstellen.

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