Meine schönsten Hörbuch-Erlebnisse des Jahres: „Friedhof der Kuscheltiere“ gelesen von David Nathan

In ihrer Frühzeit verfügte die deutsche Synchronisation über ein Personal, das in der Regel vom Schauspiel kam, dort weiterhin tätig war und sich außerdem auf anderen Gebieten – etwa in der Rezitation, im Hörspiel oder im Trickfilm – betätigte. Heute sind die Schubladen solider, die Stimmen weitgehend festgelegt. Das führt dazu, dass großartige Synchronschauspieler längst keine ebensoguten Hörbuch-Interpreten sind.* Während die Leistungen im ganz ähnlich gelagerten Fall des kommerziellem Krimi-Hörbuchs, mit dem gerne TV-Kommissarinnen und -Kommissare betraut werden, auf individuelle Weise missglücken, haben wir es bei Lesungen populärer Synchronstimmen mit einem einheitlichen Effekt zu tun (der einige „Enthusiasten“ sogar entzücken dürfte): die melodischen Besonderheiten der Synchronsprache finden sich auch in der Lesung wieder. Gestalterische Mittel, die zum bewegten Bild hilfreich und zielführend sein mögen, sind in der Lesung unpassend – etwa die allzu engagierte Ausgestaltung der unterschiedlichen Stimmen einzelner Rollen. Viele Synchronsprecher – die meisten sind parallel dazu eben keine Schauspieler und Rezitatoren – haben ihre Möglichkeiten nicht unter Kontrolle, und die Regie kann oder will nichts tun, um das anzuleiten und dem reinen Hörmedium anzupassen.

In seinen besten Arbeiten ist David Nathan die große Ausnahme von diesem Automatismus. Sein Vortrag ist ganz offensichtlich an der Synchronarbeit geschult, doch er übertreibt es nicht. Er weiß genau einzuschätzen, wo er eine Rolle einfärbt, und wenn er sich dafür entscheidet, kann er das genau dosieren. Er prahlt niemals mit seiner Verwandlungskunst und führt uns an seinen sonstigen Meriten zügig vorbei zur jeweiligen Geschichte.
Als jemand, der nicht nur Synchronstimmen-Hörbücher scheut, sondern auch dem Autor Stephen King bei allem Respekt nicht über den Weg traut, bedurfte es einer glaubhaften Empfehlung, um mich auf die 17 Stunden mit „Friedhof der Kuscheltiere“ einzulassen, die uns David Nathan als Stamm-Interpret des Autors vorliest.

Die Geschichte vom indianischen Friedhof, der die dort Begrabenen wieder zurückkehren lässt, kannte ich wie so viele von uns aus der knalligen Verfilmung von 1989. Doch, so wurde mir von einem befreundeten Kollegen versichert, dieser Roman sei in erster Linie ein sehr bewegender Text über das Trauern. Das stimmt – sogar für mich, der bisher vor allem über den Verlust von Menschen zu trauern hatte, die er nicht auch physisch begraben musste. Ein weiterer Aspekt hat mich fast noch mehr fasziniert: es gibt Menschen, die großartig darin sind, für jede noch so abwegige Entscheidung eine plausible Begründung herbeizureden. Der Held der Geschichte, Louis Creed, wundert sich selbst darüber, wie ihm dieses Talent zur Manipulation (auch seiner selbst) plötzlich zufällt, als er offenbar unter den Bann der verfluchten Ritualstätte gerät. Auch die delikate Frage, in welchem Alter einem Kind welche Wahrheiten zuzumuten sind, wird hier klug verhandelt. Und: das Buch hat ein Herz für Menschen, die Katzen doof finden.

David Nathan wählt das bedächtigste Tempo, dem sich noch bequem zuhören lässt, und gibt diesen Raum für die Entfaltung aller Bilder und Emotionen frei, derer das verzagte Herz des Zuhörers fähig ist. Er führt uns haargenau bis an den (bei jedem von uns unterschiedlich gelagerten) Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt – und das haben wir mit Louis Creed gemein. Durch die Präzision und Einfühlung des Vortrags werden wir auch für dessen törichtes Vorgehen empfänglich, was dem Film zu keiner Zeit gelingt.
Die wenigen Einwände, die gegen dieses Hörbuch sprechen, sind vermeidbarer Kleinkram – unglückliche Entscheidungen der insgesamt guten zugrundeliegenden Übersetzung und ein Mastering, das jede Produktionspause durch einen üblen Pegelsprung (eine Art technischen Jump Cut) deutlich markiert. Und natürlich die kleinen Sünden des großen Erzählers Stephen King.
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* Siehe auch https://blog.montyarnold.com/2023/06/22/23139/

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