Aus dem Schoß der Familie gekrochen

Siehe auch https://blog.montyarnold.com/2024/03/08/familiengrab-hoerbuch/

Was unterscheidet den Roman „The Rainbird Pattern“ von Victor Canning, der unter dem Titel „Auf der Spur“ bei uns herauskam, von Alfred Hitchcocks Verfilmung „Familiengrab“?

Die reiche Miss Rainbird, eine alte Jungfer, lässt nach ihrem verschollenen Neffen suchen, um ihn in seine Rechte einzusetzen. Das Kind war unmittelbar nach seiner Geburt aus Erwägungen des konservativen Klassendünkels verstoßen worden. Da sie die Indiskretionen eines Privatdetektivs fürchtet, betraut Miss Rainbird ein Medium namens Blanche Tyler mit der Suche, ein lebenskluges Vollweib, das sich von seinem Lover George Lumley und dessen Recherchen helfen lässt. Doch auch von sich aus verfügt Blanche über seherische Qualitäten (und versetzt uns – buchstäblich bis auf die letzten Seiten – immer wieder in Erstaunen). Es ist Miss Rainbird sehr wichtig, dass auch der Gesuchte selbst nichts von der Sache erfährt, ehe sie ihn in Augenschein nehmen kann. Es könnte sich ja schließlich um ein Individuum handeln, das die alte Dame lieber nicht beerben möchte.
Wir erfahren bald, dass ihre Sorge prophetisch ist. Nach dem jungen Mann, einem gewissen Edward Shoebridge, wird nämlich noch aus einem anderen Grund gefahndet. Er ist ein gerissener Kidnapper, den die Ermittler nur als den „Trader“ bezeichnen und der sich in zwei fehlerfreien Probeläufen für eine besonders spektakuläre Entführung warmläuft. Der Fall wurde an die Geheimpolizei übergeben, da die nach Lösegeldzahlung wieder freigekommenen Opfer aus höchsten Kreisen stammen und man die Erpressbarkeit des Staates nicht öffentlich machen will. Auch Ermittler Bush, der auf den Fall angesetzt wird, muss bei seinen Nachforschungen besonders diskret sein.
Als ein Erzbischof entführt wird, geht das Drama in die nächste Runde …

Der Film weicht deutlicher von der Vorlage ab als es an dieser kurzen Inhaltsangabe erkennbar ist. Zunächst einmal verlegt Hitchcock den Schauplatz (wie schon in „The Trouble With Harry“) aus England in die USA, in diesem Falle aus der tristen Witterung des britischen Jahreswechsels ins sonnige Kalifornien. In der Tat ist der Film eine lichtvolle Angelegenheit, während der Roman die tiefsten Abgründe der menschlichen Natur auslotet. Als die Handlung bereits abgeschlossen scheint, öffnet sich eine weitere moralische Falltür und reißt buchstäblich alles in die Tiefe, was noch übrig ist. Obwohl sämtliche Figuren geradezu liebevoll und mit Witz und großem Verständnis gezeichnet werden, ist „The Rainbird Pattern“ eine tiefschwarze Parabel.
Ihr Titel (sinngemäß: Das charakterliche Muster der Familie Rainbird) würde auch zum Film passen, der Titel „Family Plot“ (was sowohl „Familien-Geschichte“ als auch „Familien-Intrige“ bedeutet), wäre für das Buch verfehlt. (Die Blödigkeit des deutschen Romantitels soll uns hier nicht weiter beschäftigen.)

Die Blanche Tyler des Romans ist nicht nur tatsächlich seherisch begabt, sie ist überhaupt eine überaus gescheite Person, deren psychologisches Geschick als Geschäftsfrau des Übersinnlichen beträchtlich ist. Um ihre reiche Kundin nicht zu verschrecken, sieht sie von allzu vollmundigen Versprechungen ab und räumt ihr sogar eine unbezahlte Probewoche ein. Blanches Lover George ist etwas weniger hemdsärmelig als der von Burce Dern gespielte arbeitslose Schauspieler und Taxifahrer. Obwohl das Paar im Roman getrennte Haushalte hat, genießt es ein erfülltes Sexleben.
Im Roman sind es drei Handlungslinien, die wir verfolgen. Im Film spielen die Ermittler nur am Rande reine Rolle, wir merken uns nicht mal ihre Namen. Die Szene, in der sie das jüngst freigekommene Entführungsopfer verhören ist sehr witzig und rafft ganze Romankapitel kunstvoll zusammen (man spürt die Kunst des Drehbuchautors Ernest Lehman).
Im Film kreuzen sich die Wege der beiden Gaunerpärchen früh und dramaturgisch geschickt. Der von William Devane mit gepflegter Widerwärtigkeit gespielte Diamantenhändler sieht im Vergleich zu seinem literarischen Vorbild wie ein Kleinkrimineller aus: Eddie Shoebridge ist ein menschenfeindlicher Öko-Philosoph, der sein schäbiges Treiben als Ausleben einer höheren Religion betrachtet. Er ist im Umgang mit seiner ahnungslosen Mitwelt derart gesellig und einnehmend, dass er ein ganz besonders dankbares Modell für einen Hitchcock-Schurken abgegeben hätte. Nur wäre das ein ganz anderer Film geworden. Seine Enttarnung verläuft entsprechend brutal und verstörend. Er hinterlässt einen Sohn. Und der ist entschlossen, das Rainbird-Muster weiterzuspinnen.

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