Ursünden der Popkultur

Wann fing das eigentlich an, dass man unter dem Begriff „Musical“ jenes brüllend oberflächliche, trutschige Herumgehopse verstand, in dem trotz präziser Interpretation des notierten Materials kein einziger Ton zu hören ist, der nicht emotional falsch klingt?
Inzwischen hat die Fachwelt ein später verfilmtes Broadway-Musical als Quelle ausgemacht, das noch vor der LloydWebber-Invasion den gesanglichen Grundstein für diese Entwicklung legte, zu einer Zeit also, als der Begriff „Musical“ noch seine ursprüngliche Bedeutung hatte, die Gattung aber in einer gewissen Bedeutungslosigkeit versunken war: „Annie“, das Waisenkind-Rührstück von Charles Strouse. Das war im April 1977.
Kai Luehrs-Kaiser drückt es im rbb so aus: „Annie“ vereine „alle melodramatischen Kitsch-Eigenschaften der ‚Weihnachtsgeschichte‘ von Charles Dickens mit einer Aufstiegsstory à la ‚A Star Is Born‘. Es ist ein Schuss Shirley Temple mit dabei – oder Greta Thunberg, denn dieses elfjährige Waisenkind schafft es bis ins Weiße Haus zu Präsident Roosevelt, um ihm politische Messages einzuflüstern. Andrea McArdle, das losgelassene Opfer einer Eislauf-Mutter, pflegt in der Titelrolle einen plärrigen Baby-Sound. Das ist der Stil, in dem heute alle Musical-Sänger singen, ein Stimm-Typus, mit dem man in klassischen Musicals wie denen von Cole Porter oder Richard Rodgers nicht weit gekommen wäre. Insofern hat ‚Annie‘ Schule gemacht, was eine fatale Entwicklung ist.“

Der deutsche Synchron, der inzwischen ganz ähnlich klingt, hat einen ebensolchen folgenreichen Sündenfall. Das dürfte die TV-Serie „Mork vom Ork“ (ZDF 1979) gewesen sein. Nach der ersten Folge schrieb eine verstörte Leserin an meine Fernsehzeitung, der schrille Sound, in dem hier gesprochen würde einem die Ohren zerreißen. In der Folge machte sich dieses Idiom zunächst in anderen Sitcoms breit, bald darauf im ganzen Programm.

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