Zauber ohne Anfang

betr.: die Findung von musikalischen Gattungsbezeichnungen

Erste Werk einer bestimmten Musikgattung ausfindig zu machen, gelingt nur selten, weil die Übergänge von einer zur anderen Form fließend und die Gattungsnamen mitunter mehrdeutig sind (wie ‚Symphonie‘ oder ‚Sonate‘). Hinzu kommen unterschiedliche Bedeutungen einzelner Begriffe in verschiedenen Sprachräumen (etwa „Rhapsody“ / „Rhapsodie“), so kommt es zum Deutschen als fachlicher Amtssprache des Klassikbetriebs.

Auch haben sich manche Kunstgattungen aus einer anderen heraus entwickelt und sie zunächst parodiert. Lange Zeit weiß man nicht, ob man es überhaupt mit etwas Tragfähigem, Neuem zu tun hat, bei dem sich lohnt, einen neuen Begriff zu verwenden. Die Operetten von Gilbert & Sullivan beispielsweise wurden von ihnen selbst und den Zeitgenossen stets als „Opera“ bezeichnet, und die frühesten Musicals waren selbstverständlich noch „Operettas“ – und der Operette tatsächlich noch näher als dem später ausgereiften Konzept des „Book Musicals“.
Der Jazz brauchte c.a. 25 Jahre, bis er als umfassende, variantenreiche Strömung erkannt wurde und seinen Namen erhielt, nachträglich wurde der Ragtime als deren Beginn ausgemacht.*

Hin und wieder entstand eine neue musikalische Gattung in relativ kurzer Zeit, weil sie tatsächlich von einem oder einigen Vorreitern erfunden wurde. Manchmal kamen ihre geistigen Väter unabhängig voneinander auf eine Idee, die in der Luft lag und für die die Zeit reif war. Die Erfindung des Streichquartetts etwa fällt in die 50er und 60er Jahre des 18. Jahrhunderts. Joseph Haydn wird gewöhnlich als ihr Schöpfer angegeben, aber der in der Nähe des mährischen Brünn geborene Franz Xaver Richter (Mitglied des berühmten Mannheimer Orchesters) hat tatsächlich schon wenige Jahre vor Haydn sechs sogenannte „Streichquartette“ komponiert, die allerdings erst nach den ersten Quartetten Haydns als sein Opus 5 publiziert wurden.
Viel diskutiert sind auch die Wurzeln der sogenannten „Symphonischen Dichtung“. Franz Liszt gebrauchte zwar als erster diese Gattungsbezeichnung und setzte sie pointiert gegen die Tradition der Symphonie, aber schon fast zwanzig Jahre vor seinem ersten Werk dieser Gattung, der sogenannten „Bergsymphonie“ (1848/49), komponierte Hector Berlioz symphonische Werke, in denen (mitunter literarische) Figuren einer Handlung folgten. Seine „Symphonie fantastique“ (1830) und „Harold en Italie“ (1834) sind erste Werke einer neuen symphonischen Gattung.

Das schon erwähnte Musical hat zwar drei eindeutige Väter bzw. Pioniere, die das europäische Konzept der Operette ab der Jahrhundertwende für das New Yorker Theaterpublikum weiterentwickelten und amerikanisierten: Victor Herbert, George M. Cohan und Jerome Kern (von denen der Letztgenannte auch zu den wichtigsten Komponisten des neuen Repertoires gerechnet wird).** Doch „das erste Musical“ existiert eindeutig nicht. Die Gattung entstand Zug um Zug zwischen ihrem mysteriösen Vorläufer „The Black Crook“ (1866), der ein Gespür dafür weckte, dass in den jungen USA ein neues Publikum mit einer eigenen Mentalität und eigenen Bedürfnissen im Entstehen war, und „Show Boat“ (1928), dem ersten Erfolgsstück des Musicals, das der ganzen Welt die Ergebnisse der zurückliegenden Experimente präsentierte.

Im Gegensatz zu den Interpreten der Klassischen Musik und der Oper, sind die Leute vom Musical an der Historie und Entwicklung ihrer Kunstform gänzlich uninteressiert, besonders in Europa. Während die Kollegen aus den USA eine gewisse popkulturelle Allgemeinbildung mitbringen, die auch heimatliche Grundkenntnisse über das Musical mit einbezieht, trifft man in den hiesigen Ensembles häufig auf eine fröhliche Überschätzung des eigenen aktuellen Projektes, das gern als besonders wichtiger und innovativer Beitrag zur Gattung hochgejazzt wird (was bei einer Wiederaufführung von „Oklahoma!“ immerhin nicht ganz unrichtig ist). Auf dem schwarzen Brett der Berliner Bühnenshow „Hinterm Horizont“ (2011), die praktisch vollständig aus alten Popsongs zusammengesetzt war, wurde sogar stolz verkündet, man stünde hier an einem Scheideweg, und alle Beteiligten sollten sich darüber im Klaren sein und sich dieser Weihe würdig erweisen – zu diesem Zeitpunkt war selbst das Konzept des Juke-Box-Musicals bereits ein alter Hut. (Dies nur als Beispiel für eine allgemeine Befindlichkeit …)
Wenn ein Musicaldarsteller einen Satz mit den Worten beginnt „Das erste Musical war …“ outet er sich bereits als vollkommen ahnungslos.
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* Siehe https://blog.montyarnold.com/2014/10/21/eine-abkuerzung-zum-jazz-1-der-ragtime/ und die folgenden Beiträge der Serie „Eine Abkürzung zum Jazz“.
** Siehe https://blog.montyarnold.com/2016/03/14/heute-ist-montag-4/ und die folgenden Beiträge des Kapitels „Und ganz viel Europa“.

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