Broadway’s Like That – Die Geschichte des Musicals (1)

betr.: 60. Jahrestag der Uraufführung des Musicals „My Fair Lady“ / Beginn einer Serie über die Geschichte des Musicals

VORWORT

Als ich mich mit dem Tingeln aufhörte, um verstärkt im Studio zu arbeiten, fiel mir auf, dass ich zwar meine Filmmusik-Plattensammlung praktisch auswendig konnte, aber viele meiner Musical-LPs (es waren weitaus weniger als im Filmmusik-Regal) noch gar nicht gehört hatte. Gerade mal ein Drittel hatte ich überhaupt je abgespielt.
Der Grund lag auf der Hand: die zumeist instrumentale Filmmusik hatte ich immer im Alltag hören können, im Hintergrund – beim Texten, Textlernen, Verträgeschreiben … Die Musicals waren eher etwas zum aufmerksamen Zuhören.
Gewiß – ich war mit der ZDF-Senderiehe „Des Broadways liebstes Kind“ aufgewachsen, in der seit 1970  regelmäßig die klassischen Filmmusicals und Musical-Filme zu sehen waren. Insofern war ich ein Fan von Kindesbeinen, der mit der aktuellen Popmusik jener Jahre nur sehr mühsam warm wurde. Aber systematisch beschäftigt hatte ich mich nie damit, und selbstverständlich kannte ich nur die Filmversionen der Werke.
Nun stand ich also vor einer beträchtlichen Menge ungehörter „Original Broadway Cast Recordings“. Ich begann mit dem alphabetisch frühesten Titel meiner damaligen Sammlung – „All American“ von Mel Brooks – und beschloß, mich der Reihe nach durchzuknabbern. Es muß bei der zweiten oder dritten Platte gewesen sein, dass mir klar wurde, was ich mir all die Jahre hatte entgehen lassen. Ich verschwand für mehrere Wochen in einem Rauschzustand. Ich hatte mich immer für einen Fan des amerikanischen Musiktheaters gehalten, aber der wurde ich erst jetzt.
Meinen Wissensdurst konnte ich zunächst mit der Lektüre der Rückseiten der jeweiligen Plattentaschen stillen – Fachliteratur in deutscher Sprache war und ist praktisch nicht aufzufinden. Später behalf ich mir mit Dokumentarfilmen, Artikeln, Radiosendungen, Biographien, Gesprächen mit Sammlern und Zeitzeugen und natürlich mit Sekundärliteratur aus England und den USA.

Ich spürte die Lücken in meiner Sammlung auf und schloß die wichtigsten so rasch ich konnte. Drei Jahre später wurde die Joop Van den Ende Academy eröffnet, und ich bewarb mich erfolgreich als Geschichtslehrer. (Wie Sie sicher wissen, droht ihr Bestehen in einigen Monaten zu enden.)
In den ersten drei Jahren meiner Tätigkeit (oder in den ersten sechs Semestern, wenn Sie so wollen) schrieb ich jeden Unterricht vorher Wort für Wort auf und lernte ihn auswendig, wie ich es von meinen Kabarettprogrammen gewohnt war. Es war ein immenser Aufwand, aber er gehörte sich so und zahlte sich aus. Und er ließ freilich viel Raum für Abschweifung, Improvisation und Diskurs.

Die heute beginnende Serie ist eine Wiedergabe dieser Unterrichtsunterlagen. Sie nimmt sich den runden Geburtstag von „My Fair Lady“ zum Anlaß, dem Hauptwerk des Musical-Genres, und ist wie ein Funkmanuskript aufgebaut, weil ich im Unterricht mit zahlreichen Ton- und Filmbeispielen arbeite. Als Liebhaber des öffentlich-rechtlichen Features ergab sich diese Struktur von selbst.
Die Film- und Musikbeispiele sind hier genannt und wenn möglich als Link bzw. als kurzer Noten-Ausriß eingefügt.
Einigen Prognosen und Bestandsaufnahmen ist das Alter des Materials anzumerken (siehe ganz unten). Ich habe es nur sehr behutsam aktualisiert, da es ja hier ausdrücklich um Historie geht.
Zur Vertiefung der nun folgenden Überlegungen sei auch auf den Blog vom 11. Mai 2015 verwiesen.

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Und ganz viel Europa – Die Anfänge des Broadway (1)

https://www.youtube.com/watch?v=OvFVNbk8XPo

„Till The Clous Roll By“ – 1917 entstand die Aufnahme dieses herzigen Songs aus dem Musical „Oh, Boy!“. Bis zu den allerersten Anfängen des Genres Musical sind wir damit noch nicht zurückgegangen. Aber dieser Song steht doch für etwas Besonderes. „Oh, Boy!“ gehört nämlich in die Reihe der sogenannten Princess Theater Musicals, die in dem legendären Ruf stehen, dem Musical erstmals eine eigene, vor allem eine eigenständig amerikanische Gestalt gegeben zu haben.
Und als der amerikanische Beitrag zum Musiktheater der Welt wird das Musical ja allgemein angesehen. Glanz und Glamour, die Lichter des Broadway – eines ehemaligen indianischen Trampelpfades – des „Great White Way“, an dem sich die Geschichte der Kunstform auch weitgehend abspielt, treten einem beim Stichwort „Musical“ ganz unwillkürlich vor Augen. Als Genre des populären Theaters, als Trivialform, die auf unmittelbare Publikumswirksamkeit angelegt und angewiesen ist, gibt das Musical ein ungebrocheneres, direkteres Abbild von Zeit und Gesellschaft, als ein seine Gegenwart viel stärker sublimierendes Kunstwerk.

So ist neben dem Hollywood-Film das Musical sicherlich diejenige Kunstform, welche die Vorstellung vom American Way Of Life besonders prägt – und das verleiht ihm einen Großteil seiner Anziehungskraft oder aber – je nach Standpunkt – auch einen Hautgout.
Kein Zweifel – hierzulande, wo lange Zeit gar keine eigenständige Musical-Kultur existierte, erfreut sich das Musical großer Beliebtheit. Musicalpaläste – bisweilen gleich als ganzes Erlebnis-Zentrum angelegt – wurden zahlreich errichtet und haben Hamburg zur weltweit drittgrößten Musical-Stadt werden lassen. Zunächst einmal war dieser Boom sicherlich das Ergebnis einer Internationalisierung und einer nicht ganz unbedenklichen Industrialisierung des Genres Musical. Die neue Lust gerade am Musical, einem hybriden, zwischen Unterhaltung und Kunst lavierenden Genre, entspricht aber auch dem postmodernen „Anything Goes“: gelockerten, ästhetischen Normen, der sich verwischenden Grenzen zwischen U und E .

Crossover – das Pendeln zwischen und das Vermengen von musikalischen Sphären – ist keine Seltenheit mehr. Opernsänger wirken wie selbstverständlich in Musical-Einspielungen mit, und ein so renommierter wie exprimentierfreudiger Regisseur wie Peter Sellars versuchte sich auch am Musical.
In der heutigen Erlebnisgesellschaft, gehört es durchaus zum Guten Ton mit Erscheinungen der Massenkultur zu kokettieren – ein Phänomen übrigens, das ähnlich schon Theodor W. Adorno kannte und als „Amor Intellectualis zum Küchenpersonal“ beschrieb.

Ungeachtet jeden modischen Hangs zum Populären, trägt das Musical aber auch ganz einfach einem Unterhaltungsbedürfnis rechnung, das vom Regietheater vielfach ignoriert, wenn nicht sogar verachtet wird. Trotz seiner augenblicklichen Popularität sind Ressentiments dagegen nicht sogleich ausgestorben. In der akademischen Forschung etwa trifft es einstweilen hierzulande noch auf weitgehendes Desinteresse. Da mögen Relikte eines linken Antiamerikanismus eine Rolle spielen, ebenso wie das in einem Land des staatlich subventionierten Theaters nicht erstaunliche Misstrauen gegenüber einer Kunstform, die kommerziell erfolgreich ist. Immerhin – im April 1994 veranstaltete die „Gesellschaft für unterhaltende Bühnenkunst“ in Berlin den ersten „Deutschen Musicalkongress“, ein Ansatz dem Genre Seriosität zu verleihen.

In den USA selbst erfährt die so eng mit dem amerikanischen Musiktheater verknüpfte Kunstform Musical seit wenigen Jahren eine starke Aufwertung vom Gebrauchs- zum Forschungsgegenstand.
Es sieht so aus, als ob das Musical sein spezifisch amerikanisches Flair zu verlieren droht – moderne Klassiker wie „Les Miserables“ oder „Mamma Mia“ sowie die Arbeiten von Andrew Lloyd Webber sind ja keine amerikanischen Musicals.
Daß sich neuerdings auch Musikwissenschaftler in Spezialuntersuchungen dem Genre nähern, dass CD-Sammlungen erscheinen, die historischen Aufnahmen die Entwicklung des Genres dokumentieren, dass historische Musicals möglichst authentisch dokumentiert und eingespielt werden, all das läßt auf ein erwachendes historisches Bewußtsein hoffen.

Forts. folgt

 

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