Schrankwandliteratur

betr.: literarische Früherziehung

Ein geliebter Freund, den ich für sein südländisches Naturell (seine intelligente Lebensfreude, seine vorurteilsfreie Herzlichkeit und sein sexuelles Selbstverständnis) aufrichtig bewundere, wollte in einem Gespräch, das wir kürzlich führten, unbedingt als Bücherfreund von mir anerkannt werden. Ausgerechnet das ist er nun in keinster Weise: bibliophil. Die zum Bücher-Lesen unerlässliche Bereitschaft, zu versinken und stillzusitzen, kann ich gar nicht mit ihm in Verbindung bringen. Als ich es wagte, das auszusprechen, wäre er beinahe in die Luft gegangen. Ich sagte ihm, dass ich in seinen Wohnungen (auch in der soeben bezogenen) noch nie Bücher gesehen hätte (von den obligatorischen beiden Bildbänden im TV-Regal einmal abgesehen). Sogleich wechselte er das Thema und war wieder lieb.
Selbstverständlich ist mein Freund mit 40 Jahren bereits Angehöriger einer Generation, in der das Lesen nicht mehr so wichtig genommen wurde und hat sich überdies längst vollständig auf das Smartphone als Universalmedium zurückgezogen wie die meisten heutigen Menschen jeglichen Alters. Der etwa gleichaltrige Clemens J. Setz – für mich der mit Abstand interessanteste Autor unserer Zeit – hat bis zu seinem 16. Lebensjahr überhaupt nichts gelesen. Dann packte es ihn umso schlimmer, und er las sämtliche Schrifttumsgattungen in atemberaubender Menge. (Er bearbeitet heute auch sämtliche Schrifttumsgattungen, selbst die digitalen.)

Eine Vorausahnung der Clemens J. Setz-Story in „Tales To Astonish“ # 62, 1964 –  Text: Stan Lee, Zeichnungen: Steve Ditko, deutsch bei Williams 1974

In meinem Elternhaus gab es Bücher als obligatorischen Bestandteil der Schrankwand-Befüllung – kleinbürgerliches 70er-Jahre-Repertoire: Simmel, Konsalik, Karl May (wovon ich mich instinktiv fernhielt), aber immerhin auch ein Wilhelm-Busch-Album, das mich unendlich bereichert hat. Sonst wuchs ich abgesehen von eigenen Titeln (einiges von Wilhelm Hauff und Agatha Christie) weitgehend illiterarisch auf – bis ich durch einen Altpapierfund in den Besitz eines Stapels „Doc Savage“-Taschenbücher gelangte und mir mein Bruder seine abgelegten Marvel-Comics überließ. Ich profitiere bis heute von diesen beiden Ereignissen.*

In Interviews wird selten nach der Lesesituation im Elternhaus gefragt, obwohl das bei den Über-40jährigen ja ein hochspannender Aspekt ist. Immerhin Autoren werden zuverlässig darauf angesprochen, und es erweist sich dann und dort als perfektes Sprungbrett in das Thema des eigenen Rezeptionsverhaltens und damit der eigenen Persönlichkeit.** Diese Passagen sind für mich das Epizentrum jedes Gesprächs, umso mehr, wenn mir die Befragten aus dem Herzen sprechen, aber längst nicht nur dann.
Ein paar beliebige Beispiele.

Für Evelyn Waugh (1903-66) bildeten die Autoren des 19. Jahrhunderts „die Grundlage meiner Erziehung. (…) P. G. Wodehouse hatte direkten Einfluss auf meinen Stil. Dann gab es ein kleines Buch von E. M. Forster namens ‚Pharos And Pharillon‘ – Skizzen über die Geschichte Alexandrias. Ich glaube, dass Hemingway in seinem ersten Roman ‚Fiesta‘ wirkliche Entdeckungen über den Gebrauch der Sprache machte. Ich bewunderte seine Art, Betrunkene reden zu lassen.“ Was mit Ronald Fairbank sei. „Als ich jung war, hat er mir sehr gut gefallen. Heute kann ich ihn nicht mehr lesen.“
Mich haben meine Erstkontakte nie völlig losgelassen. Natürlich lese ich kaum noch einen „Doc Savage“-Roman vollständig durch, aber ich blättere immer wieder darin, um mich an Lester Dents unbekümmerter Kolportage und seiner unerreicht drallen Figurenzeichnung zu erfreuen.
Als er auf Raymond Chandler angesprochen wird, wehrt Evelyn Waugh ab: „All diese Whiskytrinkerei langweilt mich. Und aus Gewalt mache ich mir auch nichts“, jedenfalls nicht aus Gewalt der „belanglosen, anstößigen Art“. Und: „Faulkner finde ich unerträglich schlecht!“
Vieles davon spricht sehr zu bzw. von mir.

Neidisch macht mich, was Bernhard Schlink über seine Mutter zu berichten hat: „Als wir jung waren, las sie jedes Buch, das wir lasen, damit sie mit uns darüber reden konnte.“
Der von mir bisher ungelesene Philippe Dijan erzählt eine schlimme, aber herrliche Geschichte aus seiner Kindheit, die uns regelrecht in sein Elternhaus hineinblicken lässt: „Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der man Bücher quasi nicht kannte. Wir hatten eine Art Lade, auf der Bücher standen, die wir jeden Monat zugeschickt bekamen. Kam ein neues, musste man ein altes wegwerfen. Auf dem Bücherbrett wäre sonst kein Platz für das neue gewesen.“

Zu solchem Pragmatismus werde ich nie in der Lage sein.
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* Der ST. GEORGE HERALD berichtete ausführlich …
** Siehe dazu auch https://blog.montyarnold.com/2022/12/18/der-kommunismus-in-der-science-fiction/

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