Die schönsten Filme, die ich kenne (38): „The 5,000 Fingers Of Dr. T“

Friedrich Hollaender war ein Großmeister des Kabarett-Chansons der Weimarer Republik*, regelmäßiger Vertoner von Tucholsky-Versen, aber auch selbst ein gewiefter Texter. Er floh, wie so viele seiner Kollegen und Interpreten, vor den Nazis in die USA, wo er seine Karriere im Film fortsetzte – etwa als sinfonischer Soundtrack-Komponist für Billy Wilder oder als Songschreiber für Marlene Dietrich, die er beide noch aus Deutschland kannte.
Ähnlich wie Kurt Weill, ein anderer komponierender Emigrant aus Berlin, ist Hollaender in Amerika mit Musik überaus erfolgreich gewesen, die hierzulande nicht zur Kenntnis genommen wird**. In Hollywood er ein Technicolor-Filmmusical, das auf den gruselig-schrägen Einfällen des gefeierten Kinderbuch-Autors Dr. Seuss basierte: „The 5,000 Fingers Of Dr. T“.

5,000 Fingers Of Dr. T._Sheet Music CoverFür diese Musik gab es sogar eine Oscarnominierung – dann verstummte sie für immer: Hollaenders vergnügliche Horror-Operette nach Dr. Seuss.

Der sadistische, tuntige Klavierlehrer Dr. Terwilliker (den gleichen Familiennamen trägt auch der Schurke Tingeltangel-Bob in der Serie „Die Simpsons“) entführt reihenweise Klavierschüler, die er in sein labyrinthisches Lustschloss verschleppt. Er braucht 500 von ihnen, damit sie sein Lebenswerk, ein Konzert für 5000 Finger, auf einem endlos langen Keyboard aufführen können, „ein Klaviermonstrum, das sich über 500 Oktaven durch drei Atelierbühnen schlängelt“.
Auch der neunjährige Bart Collins landet in Dr. Ts Höhlensystem, das Hollaender in seinen Memoiren beschreibt: „Da gibt’s Hängebrücken und Verliese, knarrende Fahrstühle mit roten, henkerhaften Fahrstuhlführern, schwindelnde Zinnen und gurgelnde Zisternen, Laboratorien mit geheimnisvollen Manometern, Boudoirs, elegante Schlafzimmer und Ankleideräume, in denen der Gewaltige vor zwanzig Spiegeln von zwanzig livrierten Dienern angezogen, geputzt und gepudert wird. Denn heute ist der große Tag, der Eintragungstag für 500 neue, kleine Klavierschüler. Da fahren sie schon in den Außenhof ein, in riesige Busse zusammengepfercht, die armen Opfer des grausamen Kinderfängers.“ Dass Bart hier unten seine alleinerziehende Mutter im Personal des tyrannischen Doktors wiedererkennt (sie ihn aber nicht), schockiert ihn. Es tröstet ihn, auch den netten Klempner der Familie dort zu treffen …

Neben der eben beschriebenen Ankleideszene (die in den „Simpsons“ einst von Mr. Burns parodiert werden wird), ist es vor allem eine instrumentale Szene, die auf ewig im Gedächtnis bleibt. Sein großes, unterkellertes Anwesen erlaubt es dem Burgtyrannen, auch unliebsame Kollegen einzukerkern, Musiklehrer, die andere Instrumente als das Klavier zu unterrichten wagen. Grünspanhäutig basteln sie sich in ihrem „Non-piano players dungeon“ ihre Musikinstrumente wieder zusammen und führen eine Rhapsodie auf, die George Gershwin für die „Muppet Show“ geschrieben haben könnte.

„The 5,000 Fingers Of Dr. T.“ fehlt in den handelsüblichen Musical-Ratgebern, und das nicht nur wegen seines campy-haarsträubenden Plots. Zunächst einmal war das produzierende Filmstudio nicht MGM (dessen Musical-Repertoire nachträglich in einer Reihe von Kompilationsfilmen gepflegt wurde), sondern die Columbia Pictures. Der Film kam außerdem zu einer Zeit heraus, in der die Beliebtheit von Filmmusicals plötzlich zurückging.*** Eine deutsche Fassung existiert bis heute nicht. Dr. Seuss ist bei uns erst in den letzten Jahren gründlicher vermarktet worden – in geglätteten Kinobearbeitungen wie „Horton hört ein Hu“ oder „Ein Kater macht Theater“. Friedrich Hollaender wiederum darf in unserer Wahrnehmung eben kein Vertriebener sein.  Wenn seine Arbeit heute auf Kleinkunstbühnen oder in öffentlich-rechtlichen Kulturprogrammen stattfindet, beschränkt sich das Repertoire auf eine Handvoll seiner deutschen Titel: „Das Nachtgespenst“ und „Die Kleptomanin“ dürfen nicht fehlen, in den letzten Jahren ist noch „Stroganoff“ hinzugekommen. Das liegt am notorischen Desinteresse seiner Interpreten für die Geschichte des eigenen Metiers, hängt aber auch damit zusammen, dass viele Jahre lang im Wesentlichen zwei Hollaender-Notenbücher in Umlauf und Gebrauch waren, die das amerikanische Repertoire aussparen.

Die zu ihrem Leidwesen kinderlos gebliebene Marilyn Monroe liebte den Film – das restliche Publikum weniger. Nicht mal ein Sechstel der Produktionskosten von 1,6 Millionen Dollar wurden eingespielt. Produzent Stanley Kramer erklärte sich das so: „Für  Kinder waren wir zu sophisticated, für die Erwachsenen zu durchgeknallt.“
Heute wäre „The 5,000 Fingers Of Dr. T.“ eine echte Inspiration für ein Publikum, das seinen Kindern allzu gern den Furor der eigenen Selbstoptimierung überstülpt.
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* Siehe dazu https://blog.montyarnold.com/2015/01/18/ist-ein-chanson/
** Siehe dazu https://blog.montyarnold.com/2014/09/26/das-genie-hinter-dem-schraegstrich/
*** Siehe dazu https://blog.montyarnold.com/2017/04/15/die-schoensten-filme-die-ich-kenne-vorwiegend-heiter/

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