betr.: 32. Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl
Heute vor 32 Jahren ereignete sich die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Es war ein historisches Ereignis, das haargenau in meine Biographie hineinpasste, denn wenige Tage später trat ich zum ersten Mal auf einer richtigen Kabarett-Bühne auf, mit richtigen Kabarettisten als Spielpartnern; bisher hatte ich entweder allein agiert oder mich in der Gesellschaft von Karnevalisten befunden. Auf mein tagelanges persönliches Auf-der-Matte-Stehen und intensives Drängeln hin, hatte mich der Saarbrücker Schauspieler und Kabarett-Künstler Bob Ziegenbalg in seine monatliche Reihe „Das Letzte“ in den Saarbrücker Jazzkeller „Gießkanne“ eingeladen. Der Dritte im Bunde war der Liedermacher Sigi Becker. Unweit unseres Brett’ls, auf der anderen Seite der deutsch-französischen Grenze, war das Atomkraftwerk Cattenom im Begriff, ans Netz zu gehen. Die bereits gestarteten Demos erhielten durch den russischen GAU neue Nahrung, und „Das Letzte“ war ein wahrlich radio-aktiver Abend. Bob und Sigi schrieben ein paar neue Nummern zum Thema und holten ein, zwei ältere hervor; kurz darauf sollte Hanns Dieter Hüsch auf seinem SR-„Gesellschaftsabend“ wieder aus der „Carmina Urana“ lesen.
Der einzige, der an jenem Abend in der „Gießkanne“ die ganze Zeit von etwas anderem als Atomkraft redete, war ich. Das sorgte für eine ganz nette Mischung und war ein Vorgeschmack auf mein bevorstehendes Kabarettistenleben in der späten Bonner Republik.
Das letzte „Letzte“ war mein Kabarett-Debüt. Gastgeber Bob Ziegenbalg (links) und Chansonnier Sigi Becker nahmen mich brüderlich in ihre Mitte auf. Roger Paulet hat uns fotografiert.
Ungeachtet aller Lieder und Proteste wurde Cattenom termingerecht hochgefahren, und in den folgenden Monaten verrauchten allenthalben die Reaktorwitze. Empörung hat eine weitaus geringere Halbwertszeit als Atom-Müll.
Bei meiner Solo-Tätigkeit in der nunmehr mächtig Fahrt aufnehmenden Kohl-Ära fiel mir noch etwas auf: Kabarett ist eine zweischneidige Angelegenheit. Der zweimalige Wende-Kanzler* wurde 16 Jahre lang (zumeist nachlässig) imitiert, als „Birne“ beschimpft (bzw. korrekt beschrieben), er regte sich sogar darüber auf (zuvorkommender kann man seinen Kritikern nicht begegnen) – allein es half nichts. Er blieb und blieb.
Wer damals eine gut funktionierende Kabarettvorstellung besucht hat, kennt dieses wohlig-blümerante Gefühl: der Saal tobt, und die informelle Kleingruppe der Anwesenden fühlt sich als starkes Ganzes, als erweckt, auserwählt, aufmüpfig und unbequem für die Regierenden, als Ungeheuer mit einem Kopf. Man ist glücklich, Teil einer kritischen Masse zu sein – und geht vollauf befriedigt nach Hause. Eine weitere Einmischung ist nicht mehr nötig, hat man sich doch gerade ehrenhaft nassgeschwitzt.
Bob ärgerte sich manchmal über die Leute, die sich ihren „gepflegten politischen Witz“ abholen und dann alles beim Alten lassen.
Immerhin kann niemand behaupten, Kabarett würde gar nichts bewegen.
Anfang der 90er Jahre wurden wir Kabarettisten – wenn wir noch wollten – zur Comedy eingezogen, und die Selbstverpflichtung, unnütz Politikernamen im Munde zu führen, wurde aufgehoben. Deswegen wurde nicht alles besser, aber das ist eine andere Geschichte.
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* Helmut Kohl trat sein Amt mit der Ankündigung einer „geistig-moralischen Wende“ an. In den 80er Jahren verstand man unter „der Wende“ zunächst den Beginn seiner Kanzlerschaft. Mit dem Fall der Mauer – Kohls Versprechen war inzwischen verpufft – wurde der Ausdruck auf die deutsche Wiedervereinigung umgewidmet.