Buddha vergessen (1/2)

Eine Urlaubsgeschichte von Monty Arnold

Klaus-Uwe war maulig. Das konnte ich gut verstehen.
Seine Ankunft auf Gran Canaria – unsere Ankunft – hatte mit Zahnweh begonnen. Das konnten ja heitere Ferien werden. Ich hatte mich als echter Leitwolf erwiesen und – mit Hilfe des Rezeptionisten und seines Internet-Anschlusses – einen Zahnarzt ausfindig gemacht, der sich ganz in der Nähe des Hotels befand.
Klaus-Uwe lobte mich nicht ausdrücklich dafür. Zur Behandlung musste er ja schließlich selbst – das konnte ich im nicht ersparen. Und falls Susanne stolz auf mich war, so zeigte sie es nicht.
Sie scannte mit einer raschen Drehung des Kopfes den Platz vor dem Hotel.
“Wo ist denn nun unser Mietwagen?“ fragte sie. „Sagtest du nicht, der würde schon bereitstehen?“
“Tut mir leid“, erklärte ich. „Irgendein platter Reifen oder sowas. Die schicken jemanden her, der uns einen neuen Wagen bringt. … Er müsste doch längst hier sein …“
“Hast du gehört, Klaus-Uwe? Müsste.“
Ich versuchte, Konversation zu machen und brachte das Gespräch auf den Film, den  ich für unseren Herflug ausgesucht und auf meinem Laptop vorgeführt hatte.
“Hat Dir denn wenigstens der Trickfilm gefallen? Ich fand ‚Susi und Strolch’ ja immer großartig!“
“’Susi und Strolch’ ist doof“, korrigierte mich Klaus-Uwe. „Der ist ja nicht mal 3-D.“
Das Auto konnten wir im Augenblick sowieso nicht brauchen, denn durch unseren kleinen Krankheitsfall mussten wir unseren Plan, die landschaftliche Seite dieser Touri-Hochburg zu erkunden, ohnehin verschieben. Aber organisatorisch war die Situation wirklich etwas unpraktisch.
“Solange das Auto noch nicht hier ist, können wir nicht weg.“ meinte Susanne und scannte noch ein bisschen.
“Aber das macht doch nichts“, wandte ich ein. „Die Arztpraxis ist doch nur zwei Minuten von hier. Sagt der Mann an der Rezeption …“
“Und was machen wir, wenn der Typ mit dem Wagen kommt, während wir beim Arzt sind? Der ist imstande und zischt wieder ab!“
“Dann geht ihr doch ohne mich zum Arzt“, schlug ich vor. „Ich bin euch sowieso keine Hilfe, ich alter Impfpass-Vergesser. Und ich warte hier inzwischen auf den Mietwagen!“
Susanne sah etwas verdrossen aus – wie immer, wenn meine Logik nicht zu widerlegen war – und setzte sich mit einem leisen „Komm!“ in Bewegung, den kläglichen Klaus-Uwe hinter sich herziehend.

Als sie mit ihm um die Ecke gebogen war, befiel mich ein eigenartiges Gefühl. Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich es benennen konnte: Ich war allein. Zum ersten Mal seit Beginn der Sommerferien war ich allein.
Der erste Urlaubstag setzt den Superpapa immer ein wenig unter Druck, und dieser Verlegenheit war ich nun entkommen.

Ich ahnte, dass unser Wagen noch eine Weile brauchen würde, aber ich konnte hier nicht weg. Was hätte ich auch großartig machen sollen – auf einer Insel, auf der es ganz sicher kein Antiquariat für Comics gab.
Ich ließ den Blick schweifen und dachte nach, wie sich die Zeit am besten totschlagen ließ.
Da entdeckte ich einen Mann, der ganz allein auf einer etwas unglücklich platzierten Bank saß – sie war nicht auf das Meer ausgerichtet, sondern auf die Hotelanlage. Der Mann starrte wie ein Ganescha auf den staubigen Parkplatz (… Sie kennen doch diese molligen, elefantenköpfigen Kaufmanns-Schutzheiligen, die man in Andenkenläden findet?). So sah er aus. – Na, ganz so war es nicht. Er war zurechtgemacht wie ein Pauschaltourist aus dem Rheinland, aber das wirkte wie eine Verkleidung. Er kam von ganz weit her, das sah ich sofort, er verströmte die Aura einer abgeschiedenen Bergregion.
Es war mir unmöglich zu erraten, was für ein Landsmann er wohl sein mochte.
Er mochte Ende fünfzig sein und war so dick, als käme er von dieser Bank ohne fremde Hilfe nicht wieder hoch. Doch er war nicht von dieser weichtierhaften, herabhängenden Verquollenheit, zu der wir Mitteleuropäer neigen, wenn wir in ein gewisses Alter kommen. Er wirkte edel, stattlich, beinahe schön in seiner Fülle. Bei irgendeinem weitgereisten Schriftsteller – Kipling? Maugham? … – hatte ich mal gelesen, dass Inder – oder waren es Burmesen? – nicht in der unsrigen Weise zunehmen (nämlich dort, wo es besonders unvorteilhaft aussieht und maximal im Wege ist), sondern symmetrisch. Wie eine schwellende Frucht.
Der Mann auf der Bank machte es vor.
Wenn ich das Susanne erzählt hätte, wäre sie mir bestimmt wieder mit ihrer political correctness gekommen: man darf die Menschen anderer Kulturen nicht beschreiben, nicht mal mit lobenden Worten.
„Das gehört sich nicht, hörst du? Das ist Kolonialstil!“
Soweit ich weiß, darf man inzwischen nicht einmal mehr andere Deutsche beschreiben, ohne dass irgendjemand einen Shitstorm loslässt.
Zum Glück waren beide gerade nicht in der Nähe, um mich zurechtzuweisen: weder Susanne noch Facebook.

Und so erwachte in mir jener romantische Trieb, der seit meiner letzten Junggesellen-Reise fast in Vergessenheit geraten war: der Wunsch, in die Geheimnisse ferner Gestade einzudringen.
Dieser rätselhafte Exot stammte mit Sicherheit nicht von der Insel – hier gab es ja fast nur deutsche Touristen. Seine Anwesenheit auf diesem schlichten Sitzmöbel war ein Zeichen des Himmels. Da ich nicht die Absicht hatte, meine Familie zu verlassen, würde ich nie wieder allein auf Reisen gehen können. Und noch einmal würde mir Klaus-Uwe nicht die Freude machen, in den Ferien Zahnschmerzen zu bekommen. Der rätselhafte Sitzriese war vielleicht meine letzte Chance, vor Ort meinen Horizont zu erweitern.
Ich sah ihn mir unter diesem Gesichtspunkt noch einmal genauer an. Zum Glück befand ich mich leicht schräg hinter ihm, sonst wäre es mir längst peinlich gewesen, ihn so lange anzustarren.
Jetzt gilt’s, dachte ich.
Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich nicht wenigstens herausbekam, woher er stammte. Mit Englisch kommt man ja überall durch, einen Versuch war es also wert. Das Hotel war in Sichtweite. Susanne und der Kleine würden mich schon finden, wenn sie mich leicht schräg von hinten auf der Bank entdeckten. Ich beschloss, mich – wenn er nichts dagegen hatte – zu ihm zu setzen und etwas mit ihm zu plaudern.

Forts. folgt

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