Buddha vergessen (2/2)

Eine Urlaubsgeschichte von Monty Arnold

Fortsetzung vom 17.6.2019

Langsam, aber festen Schrittes näherte ich mich dem schweigenden Nippesgötzen. Vielleicht war er ja ein pakistanischer Distriktrichter auf Urlaub … oder ein verbannter Prinz.
Ich deutete eine kleine Verbeugung an und sagte: „How do you do, Sir? May I join you?“
Sein großflächiges, faltenfreies, leicht gelbliches Gesicht verzog sich irritiert. „Watt?“ antwortete er. „Nu sprechense doch deutsch mit mir!“
Zwei Dinge waren sofort klar: er hatte mich augenblicklich als deutschen Urlauber erkannt, und er war niemand, mit dem sich mein Horizont erweitern ließ.
“Ich … Sie … ich hatte …“, stammelte ich, und da mir so schnell nichts Besseres einfiel, blieb ich einfach bei meinem zurechtgelegten Text, den ich nun glücklicherweise nicht erst zu übersetzen brauchte.
“D-darf ich mich zu Ihnen setzen?“ fragte ich.
“Klaro, die Bank gehört mir ja nicht!“
Ich setzte mich zu ihm.
“Na, das ist ja dufte, hier … am anderen Ende der Welt … einen … einen Landsmann zu treffen.“ (Ich merkte schon, ich musste den Text doch ein wenig abändern.)
Er lachte. „Ende der Welt? Dolle Umschreibung für die Balearen, dat hätte mir mal einfallen sollen!“
“Tja, Sie verströmen … ein bisschen weite Welt. So rein optisch …“
Er lachte leicht verkniffen.
“Das hab ich schon oft gehört. An jeder Grenze, bei jeder Passkontrolle muss ich mir diese Sprüche anhören. Wo ich denn herkäme, so wie ich aussehe … – Ein Glück, dat wer jetz’ im Schengenraum leben. … Ich bin ein Hückeswagener Jung! Dritte Generation. Kann’s auch nicht ändern!“
“Wer hätte das gedacht? Und nun machen Sie ein bisschen Urlaub …“
“Sie sind ein Blitzmerker!“
“Mal ganz allein. Ohne die bucklige Verwandtschaft.“
Er warf mir einen grimmigen Blick zu.
“Eigentlich nicht. Die Mischpoke ist nicht zu sehen, aber das täuscht. Eigentlich hab sie mit!“
Ich wusste nichts mit dieser Bemerkung anzufangen, aber es hätte nicht sehr aufgeweckt ausgesehen, wenn ich direkt nachgefragt hätte. Außerdem würde ich es schon noch rausfinden, wenn ich ihn einfach ein bisschen reden ließ.
“Im Augenblick … sind Sie also allein.“
Er lächelte versonnen.
“Ja. Ist ein bisschen wie damals. Bei meinem ersten Trip. – Sie wissen, was ein Trip ist?“
“Öööh … ja, glaub’ schon … Man fährt irgendwo hin …“
“Man fährt alleine irgendwo hin! Ohne die Familie.“
Er wechselte die Pobacke und setzte neu an.
“Nach dem Tod seiner Frau und dem Auszug meiner Tochter – das passierte Schlag auf Schlag – hab’ ich in Fulda ein neues Leben angefangen. Ich hab mir eine kleine Mietwohnung in einem der Hochhäuser auf dem Frauenberg genommen …“
“Warum denn ausgerechnet Fulda?“
“Reine Sentimentalität. In Fulda … war ich zum ersten Mal besoffen.“
“Aha?!?“
“Ich wollte mit fünfzehn mal weg von zuhaus, in die Stadt. Ein Trip eben! Aber ich hab mich nicht allein nach Wuppertal getraut, und das hätte ich auch gar nicht gedurft. Mein Bruder hatte gerade eine Lehre in Fulda angefangen, und nun wohnte er mit einem anderen Typen in einer WG zusammen. Da konnte ich auf dem Sofa pennen … War ein dolles Wochenende. Naja, sowas prägt.“
Okay, so war er also auf seine alten Tage nach Fulda gezogen.
“Eine Wohnung im neunten Stock. Zum ersten Mal im Leben hatte ich sowas wie Aussicht. – Kaum drei Monate später hat meine Tochter angefangen zu quengeln: ‚Wat willse denn alleine da? Zieh doch zu uns! Manni meint auch …’“
“Das ist doch nett. Auch von Manni“, wandte ich ein. „Irgendwie rührend!“
“Ja, das hört sich vielleicht so an, aber das war doch alles Lug und Trug. Ich und die Annette, wir konnten uns ja noch nie ausstehen. Inzwischen ist es mir wieder eingefallen, aber damals muss ich es irgendwie verdängt haben, und vielleicht dachte ich ja – ich weiß auch nicht – das würde sich alles einrenken. Man kann ja auf Augenhöhe zusammenleben, zwei erwachsene Menschen in einer Wohngemeinschaft – so wie mein Bruder damals mit dem anderen Typen …“
“Das geht vielleicht mit anderen Typen“, rutschte es mir heraus. “Aber Vater und Tochter bleiben doch immer Vater und Tochter.“
Der alte Herr nahm wieder diese feierliche Haltung an, die ich von weitem so gründlich missverstanden hatte. Mit der Würde eines Exilmonarchen sagte er: „Da habense recht, aber damals hat mit dat keiner so deutlich gesagt!“
Wie er mir erzählte, war er erstmal auf Probe zu Tochter und Schwiegersohn gezogen, und es habe sich bombig angefühlt. Er wusste gar nicht mehr, was für ein Problem er früher mit der Annette gehabt hatte.
“Irgendwann fand ich es total albern, noch extra für den Kaninchenkasten zu zahlen …“
“ Kaninchenkasten?“
“Na, diese Wohnung auf dem Frauenberg.“
“Ach so!“
“Und wenn ich’s Ihnen sage: kaum war die Wohnung gekündigt ….“ – Er klatschte in die Hände. – „Patsch, ging das Gezicke los!“
Ich senkte den Kopf.
Er nickte dankbar.
“Dieses miese, undankbare Stück! Von wegen Augenhöhe, die reine Altersdiskriminierung! Wie einen Trottel behandelt sie mich vor ihrem Macker. Als wäre ich schon senil. Dauernd diese Vorschriften … Widerworte … Klugscheißereien …“
Er schilderte einige Situationen, die ich hier nicht wiedergeben kann, ohne indezent zu erscheinen.
Ich versuchte, der Unterhaltung mit einem Sprung in die sonnige Gegenwart eine frohe Wendung zu geben.
“Na, jetzt sind Sie ja erstmal im Urlaub! Weit weg von Annette … und Manni. Das wird Ihnen guttun! Und wenn Sie wieder zurück sind, überlegen Sie sich in aller Ruhe … Was ist denn? Sie kucken so komisch … Sie sind doch weit weg von Manni und Annette?“
“Wie man’s nimmt!“
“Ich verstehe nicht …“
“Mann! Die haben mich sitzen lassen!“
“Wo? Auf dieser Bank?“
“Auf dieser Insel!“
“Das ist doch nicht Ihr Ernst!“
Er blickte wieder auf den Parkplatz und verfiel in eine beredte Kunstpause.
“Jetzt machen Sie aber mal ’n Punkt! Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass Ihre Familie sie hier vergessen hat!“
“Vergessen! Das war Absicht!“
Stolz schwang in diesen Worten.

Ich stotterte ein paar Mal. “Die beiden sind wahrhaftig ohne Sie abgereist?“
Nun blickte er mir direkt in die Augen. „Hören Sie zu, junger Freund. Was ich jetzt sage, ist die reine Faktenlage: Die haben ausgecheckt, und das Gepäck ist nicht mehr da!“
“Ja, aber das muss doch nicht …“
“Auf dem Hinflug hat Manni pausenlos von Haustieren gefaselt, die vor dem Urlaub ausgesetzt werden. Das war früher groß in Mode. Ich dachte nur, wie kommt der darauf? Wir hatten noch nie ein  Haustier … Immer wieder fing er an mit dem Mist. Und Annette glotzte immer nur so verschlagen aus der Wäsche – so, als würde sie ihn gerade jemanden die Dreckarbeit allein erledigen lassen. Jetzt verstehe ich, was das sollte. Das war eine glasklare Andeutung. Nebenbei ganz schön deutlich!“
“Na, hören Sie mal, Herr …
“Straeten!“
“… Herr Straeten, es gibt Gesetze. Die können Sie doch nicht einfach, … das ist ja sittenwidrig!“
“Der Kerl an der Rezeption hat sie abfahren sehen, das hat er mir gesagt! Und kurz davor schickt mich diese falsche Schlange von Rabentochter noch einmal vor die Tür. Mach doch noch’n Spaziergang! Ich denk, was soll der Scheiß? Na gut. Hol ich mir vor der Rückreise halt ein bisschen Sonne ab – Pfeifendeckel. Ich laufe ums Haus, komme wieder und … den Rest der Geschichte kennen Sie!“
“Okay. Und was werden Sie machen?“
“Mir wird schon was einfallen! Ich habe immer auf eigenen Füßen gestanden. Das werde ich jetzt wieder tun! Ich fang von vorne an!“
“Wollen Sie Ihre Familie nicht doch noch mal … ausrufen lassen …? Nicht?“
Wir schwiegen.
“So kann’s gehen!“ murmelte er irgendwann. „Und dabei hatte ich mir geschworen, niemals zu einem von diesen alten Heinis zu werden, die ihrer Familie im Weg sind. Unanhängig sein, das war mir wichtig. Und wenn man Pflege braucht, lässt man sich einliefern und geht den Profis auf den Sack. Leuten, die das beruflich machen.“
Plötzlich zerschnitt ein gellender Ruf die blubbernde Parkplatz-Atmosphäre.
“ Hamfred!“
Wir fuhren herum. Eine magere Frau mit Hawaiihemd ruderte wild mit den Armen. Ihre leicht gelbliche Gesichtsfarbe kam mir bekannt vor.
Sie lief stramm in unsere Richtung, ein gleichgültig wirkender, untersetzter  Mittdreißiger folgte ihr.
“Du bist mir ja einer“, sagte die Frau und begann routiniert, meinen Gesprächspartner aus der Bank herauszuhebeln und aufzurichten.
“Wir haben schon ausgecheckt! Samma, jetzt müssen wir uns aber wirklich sputen! Kuckma, das Taxi wartet schon! Hömma, dich hier zu verstecken, dat haste doch mit Absicht gemacht. Zum Glück hat der Manni dich entdeckt. Also, ich hab und hab dich nicht gesehen …“

Das Grüppchen entfernte sich unterdessen.
Ich vermied es, den Herrn noch einmal anzusehen. Diese unerwartete Resozialisierung war ihm sicher peinlich.
Ob er diese Geschichte eigentlich selbst geglaubt hatte? Oder war er einfach jemand, der gern deutsche Touristen veräppelte? Wirklich irre, wie überzeugend er mit sich und seinem neuen Single-Dasein gerungen hatte.

Ich musste an diese Szene aus „Susi und Strolch“ denken, bei der ich als Kind immer eine Gänsehaut bekommen hatte, diese Szene, als die beiden auf einer Anhöhe stehen und zum Ort hinuntersehen – und dann in die Ferne blicken.
“Schau mal da runter, Susi! Hinter diesen Hügeln liegt ein Leben ohne Zäune und ohne Hundeleine …“
Ich war mir sicher, irgendwo dort läge es tatsächlich.
Hinter jenen Hügeln.

ENDE

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