Binge-Collecting

betr.: 125. Geburtstag von Lotte Eisner

Dass die Franzosen als perfekte Kinonation gelten – als Hersteller eigener wie auch als Kenner und Bewahrer internationaler Filmkunst – geht zu einem erheblichen Teil auf eine Frau zurück, die sich ihre Leidenschaft fürs Kino als Filmkritikerin in der Weimarer Republik erworben hat. Gleich nach der Machtergreifung der Nazis floh sie aus Berlin. London hätte ihr gefallen, doch sie entschied sich für eine Metropole, die näher lag. So gelangte Lotte Eisner in ein Paris, das vom heutigen historischen Bewusstsein noch weit entfernt war. Wie überall auf der Welt erlebte man die frühen Jahre des Tonfilms als eine Zeit, in der sich für den „alten Kram“ – also etwa für die stummen Werke von Sergej Eisenstein, Abel Gance oder Max Linder – nicht länger jemand interessieren würde. Man verarbeitete das abgespielte Zelluloid zu Schuhwichse oder Nagellack – ohne Ansehen des Inhalts. Zusammen mit einem sehr dünnen Jungen, der ihr Entsetzen über solche Barbarei teilte, startete Eisner ein Unternehmen, das sich zur Cinémathèque française entwickeln sollte. Der Junge hieß Henri Langlois – und eigentlich hatte Lotte Eisner nur über ihn und seinen Kollegen Georges Franju schreiben wollen.

Nach der Besetzung ihrer Wahlheimat durch die Deutschen, der Flucht aus dem Lager Gurs und dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Lotte Eisner zur Chefrestauratorin der Cinémathèque, die sie 30 Jahre lang bleiben sollte. In diesen Jahren bemutterte und inspirierte sie die jungen Regisseure des Neuen Deutschen Films, die erst nach und nach dahinterkamen, welche historische Figur sie in der reizenden aber resoluten alten Dame vor sich hatten – bisher war nur ihr Buch „Die dämonische Leinwand“ erschienen, in dem die Autorin die Evokation bewegter Bilder auf eine neue Stufe hebt.

In einer aktuellen Dokumentation* meint Werner Herzog, diesem Buch ausgerechnet mit dem Hinweis huldigen zu können, es sei das einzige Buch über Kino, das er je gelesen habe.

Auch die übrigen alten und jungen Filmemacher aus aller Welt – beginnend bei den Urvätern des Kinos Georges Meliès und den Gebrüdern Lumière bis hin zu Bunuel und Kubrick – und sonstige Geistesgrößen wie Cocteau und Sartre schätzten sie als Koryphäe von imposanter Ausstrahlung. Diese Wirkung nutzte sie, um der Cinémathèque unermüdlich weitere Stücke hinzuzufügen, die Hinterlassenschaften alter Filmkünstler sowie zahllose plastische Souvenirs: ein Original-Zahnrad aus „Moderne Zeiten“, die Roboter-Maria aus „Metropolis“, den Mutter-Mumienkopf aus „Psycho“ oder vieles andere mehr. Drei Viertel des Museumsschatzes soll Lotte Eisner zusammengetragen haben, wie Henri Langlois einräumte.

Ähnlich wertvoll sind Eisners Gedanken zum Film (und zur Arbeit für das Publikum im Allgemeinen). Über die in Hollywood einst gefürchtete Qualität deutscher Filmkunstwerke, die zugleich nach vollkommen kommerziellen Gesichtspunkten erdacht waren (Nach welchen sonst? Filmedrehen ist schließlich spinneteuer!) sagte sie: „Die Zwanziger Jahre waren eine merkwürdige Zeit. Der Krieg war verloren, die Menschen waren unglücklich. Wie immer, wenn die Deutschen unzufrieden sind und kein Geld haben, werden sie kreativ. Als nach dem nächsten Krieg das Wirtschaftswunder kam und es den Leuten wieder gutging, gab es in Deutschland keine guten Filme.“ Bestaunt und angestrahlt von den Kinderaugen der heranwachsenden Generation der deutschen Autorenfilmer hat sie dieses Urteil zuletzt deutlich abgemildert.

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* Zurzeit noch in der Mediathek abrufbar: die Doku „Ein Leben für den Film – Lotte Eisner“ unter https://www.arte.tv/de/videos/098800-000-A/ein-leben-fuer-den-film-lotte-eisner/

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