Wie viel Spider-Man ist in Spidey?

betr.: Start der Serie „Ms. Marvel“ am 8.6.2022

Das Konzept der Serie „Spidey and His Amazing Friends”
 
„Spidey und seine Super-Freunde“ spielt in einem kleinstädtisch gerundeten New York (ein Gegenentwurf zu dem expressionistisch verfratzten New York, das als finsteres „Gotham City“ in den „Batman“-Erzählungen gepflegt wird). Die Umrisse der Insel Manhattan sind einmal auf einer Schatzkarte zu sehen. Dieses New York ist weder Moloch noch Metropole, eher ein beschaulicher Ort mit Museen, Theatern und Kinos, einer Kirmes auf dem Boardwalk und einem schönen Park. Die Freiheitsstatue gibt es auch. Richtige Wolkenkratzer, die ja für die Fortbewegung mit Spinnenfäden so wichtig sind, bilden immer nur das fernere Panorama.*
Das Wetter ist grundsätzlich heiter und frühsommerlich, einige Bäume tragen das farbenfrohe Laub des frühen Herbstes und harmonieren gut mit den bunten Gebäuden. Falls die Atmosphäre der Episode es verlangt, sind die Helden auch nachts im Einsatz (wenn die City tatsächlich schläft, was New York ja angeblich niemals tut) und wagen sich sogar zum Hafen vor.
Beschriftungen, Anzeigen- und Werbetafeln sind in einer Fantasietypografie verfasst, was den internationalen Appeal der Serie ebenso erleichtert wie die Trennung von Vorder- und Hintergrund.

Babes In Toyland

Peter Parker alias Spidey ist etwa 13 Jahre alt, und auch seine Tante May ist verjüngt. Selbst die Superschurken sind zu problematischen Halbstarken verkleinert: der zerstörungswütige Kraftprotz Rhino (der in Marvels Silver Age einen kurzen ersten Auftritt hatte), der grüne Kobold (in den Comics über Jahre Spider-Mans wichtigster persönlicher Gegenspieler) und Dock Ock (in seiner männlichen Variante war Doctor Octopus, ebenfalls ein früher böser Dauergast der Comicserie), der hier als launisches, kleptomanisch veranlagtes Mädchen daherkommt. (Es wäre zu schön, die Eltern und die privaten Wohnverhältnisse dieser Schurken einmal näher kennenzulernen.) Die drei Spielverderber sind der Gegenpol zu den jungen Familien mit ihren wohlgeratenen Kindern und den sonstigen netten Passanten und Dienstleistern der Stadt, die wir nur flüchtig erleben.

Das Spidey-Team besteht noch aus Ghost-Spider, die nach Peter Parkers tragisch zu Tode gekommener großer Liebe Gwen heißt und die wie diese die Tochter von „Captain Stacey“ ist (in der Serie eine Beamtin), und Miles Morales, der als „neuer (afroamerikanischer) Spider-Man“ Protagonist der Spider-Verse-Filmsaga ist und hier den Heldennamen Spin trägt; er hat neben Spideys Kräften die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen. Unterstützt wird das Ensemble von der haustiergroßen Roboter-Spinne Trace-e, die am großen Überwachungsmonitor die Stellung hält, mit ihren flinken Beinchen die Tastatur des Computers bedient und als eine selbstständige Mischung aus Google, Google Maps, YouTube, Wikipedia und einem Kuscheltier funktioniert. Hin und wieder wird sie auch zu Einsätzen mitgenommen, doch in der freien Wildbahn ist sie schnell überfordert und schutzbedürftig, was dem Team zusätzliche Arbeit macht. Der kleine Spider-Bot kann sogar sprechen, doch wir hören nur ein elektronisches Zirpen, während Peter seine Sprache versteht. (Doc Ock hat übrigens einen ähnlichen Begleiter namens Cal, eine Art Helferlein auf vier Tentakelbeinchen.)

Bestens gerüstet

Die Kinds halten ihre Superhelden-Identität geheim, gehen damit aber so locker um wie es ihrem kindlichen Gemüt und der Länge ihrer zwölfminütigen Missionen entspricht. Es fragt auch nie jemand danach. Das Wechseln der Kleidung geschieht stets im Off und dauert nur Sekunden.
Ihr nach dem letzten Schrei der Raumfahrt- und Überwachungstechnik funktionierendes HQ „Netzquartier“ ist taghell und ungeheuer geräumig – obwohl es unter der Erde liegt, nämlich unter dem Vorgarten des Parker-Grundstücks, aus dem es sogar teilweise auftaucht, wenn die Helden mit Ghost-Spiders Flugmaschine zu einem Einsatz aufbrechen.
Auf freischwebenden Plattformen können die Kids ihre Hobbies pflegen, relaxen und trainieren. Den Fuhrpark bilden Spideys stylischer Netz-Flitzer, ein maßstabgerechtes Cabrio mit eingebauten Gimmicks, Ghost-Spiders Ghost-Copter und Spins Zweirad, der Techno-Racer. Doch das ist eher Staffage. Meistens werden die Netzte geschwungen, um sich fortzubewegen.
Wie diese prachtvolle Anlage entstanden ist, wird nicht verraten. Aber Peter ist (in Anlehnung an die klassische Comicserie) technisch wie auch biochemisch so begabt, dass wir ihm insgeheim unterstellen, die Sache irgendwie selbst hinbekommen zu haben.
Die entscheidende Inspiration hierfür war unzweifelhaft die großartige Cartoon-Comedy „Dexter‘s Laboratory”, in der das selbstverständliche Vorhandensein eines geheimen Super-Labors unter der elterlichen Wohnung noch ironisch gemeint war. „Dexter’s Laboratory“ von Genndy Tartakovsky lief Mitte bis Ende der 90er Jahre und war als zärtliche Parodie auf die längst noch nicht auskommerzialisierten Marvel Comics angelegt (besonders auf Jack Kirby, den Meister im Ersinnen glaubhafter Labore und Gerätelandschaften).

Spideys Helfer sind eher musisch als naturwissenschaftlich begabt. Gwen spielt Schlagzeug (mit einer unsichtbaren Band), Miles malt. Alle Drei haben tolle Moves drauf. Peter ist außerdem Jo-Jo-Virtuose und unterrichtet die anderen.

Zu den Teenagern, die der Truppe gelegentlich zu Hilfe eilen, gehören der Black Panther (trotz seiner Jugend bereits König von Wakanda), Ms. Marvel (die die Dehnbarkeit des Reed Richards von den „Fantastic Four“ übernommen hat) und der unglaubliche Hulk, der sich allerdings niemals „zurückverwandelt“. Im Kern ist er einfach ein guter Junge, der lernen muss, sein Temperament zu zügeln und seine enormen Kräfte behutsam einzusetzen.

Die Unverbesserlichen

Im Mittelpunkt jeder Geschichte steht eine moralische Botschaft wie etwa die, dass man nichts stehlen oder kaputtmachen soll, und natürlich Spider-Mans alte Apotheose, dass aus großen Fähigkeiten auch große Verantwortung erwächst.
Vor allem geht es um guten Mannschaftsgeist. Hin und wieder verfehlen auch die Helden ihr Ideal: sie geraten auf den Ego-Trip und versuchen, den aktuellen Fall allein zu lösen. Rechtzeitig kommen sie zur Besinnung und funktionieren wieder als Team, gegen das das Unrecht keine Chance hat. Solche Läuterung ist den Schurken natürlich nicht vergönnt. Die Lektionen, die ihnen Folge für Folge auf die harte Tour erteilt werden, haben sie bis zu ihrem nächsten Auftritt wieder vergessen. Das gehört bei ihnen zum Service. Meistens werden ihre Aktivitäten rechtzeitig verhindert, und selbst wenn ein Komplott tatsächlich Gestalt annimmt, wird niemand ernsthaft verletzt – auch die Schurken nicht. Selbst grobe Sachbeschädigung ist eher die Ausnahme. Dabei kommt den Helden zugute, dass diese Stadt (gemessen an der Zahl der Gebäude) recht luftig und dünn besiedelt ist.

Die Weisheit der Alten

Die Marvel-Kinofilme funktionierten erst, als sie lernten, ihre literarische Vorlage zu achten. Erst dann war der Erfolg des „Marvel Cinematic Universe“ möglich. (Wer’s nicht glaubt, sehe sich mal die „Spider-Man“-Serie von 1977 an oder den ersten „Hulk“ von 2003.)
„Spidey und seine Super-Freunde“ mussten sich deutlicher von den Comics emanzipieren, dennoch beruhen die Gesetze ihrer Alltags-Phantastik darauf. Dass die Netze, in die die Schurken im Finale gerne eingewickelt („gethwipped“) werden, sich nach einer Weile von selbst auflösen, ist einer dieser unausgesprochenen Fakten. Die Entstehung der Netze entspricht wieder der Idee aus den Comics: sie werden aus selbstgebastelten Düsen gespritzt. In den Spider-Man-Filmen unserer Tage kamen sie aus dem Handgelenk des mutierten Studenten Peter Parker.
Die gesellschaftlichen Verwerfungen, die bei Stan Lee und Roy Thomas thematisiert wurden, als das in Comicheftchen noch zutiefst unüblich war, sind bei Spidey bereits gelöst. Der Zwist zwischen Mensch und Tier, Geschlechtern, Generationen, Ethnien und sozialen Schichten ist beigelegt.
Und alle sind versorgt. Jegliche Energie wird als gewonnen vorausgesetzt. _____________________
* Zum Thema „Mystische Schauplätze“ siehe auch https://blog.montyarnold.com/2016/12/03/tatorte-game-of-thrones-und-die-serioese-polizeiarbeit/

Dieser Beitrag wurde unter Comic, Fernsehen, Marvel, Popkultur abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert