„Sabrina“ von Nick Drnaso (Aufbau Verlag) ist hier nur deshalb noch nicht gelobt und gepriesen wurden weil ich den Hymnen, die man überall im Netz und anderswo findet, gar nichts hinzuzufügen habe. Heute soll es doch einmal darum gehen.
Im Rahmen der o. g. Rubrik sei ein Text aus „Sabrina“ wiedergegeben, der auch für sich alleine prima funktioniert – und in gewisser Weise sogar noch besser als im Buch. Was mich zu der einzigen Kritik bringt, die ich daran zu üben habe: so großartig das Werk inhaltlich ist, so sehr krankt das Buch an seiner Herstellung – also dem winzigen Format der meisten Abbildungen, die sich auf zu wenigen Seiten drängen. Das ist unzweifelhaft eine Entscheidung, die mit dem Verkaufspreis zusammenhängt, keine künstlerische. Dieses Layout arbeitet gegen die beklemmenden symmetrischen Perspektiven der klinisch sauberen, kahlen Räume (die Open-Air-Szenen sehen nicht tröstlicher aus), in denen die Figuren festsitzen. Für einen Leser meines altersbedingten Sehvermögens geht (trotz aktueller Brille) viel von der klaustrophobischen Atmosphäre flöten. Ich hoffe, nachdem „Sabrina“ nicht nur allseits gefiel, sondern sogar den Booker Prize erhalten hat – den wichtigsten britischen Literaturpreis, der Comics für gewöhnlich links liegen lässt, auch wenn sie Graphic Novel genannt werden – wird es ja vielleicht irgendwann eine Edition geben, die der intendierten Dramaturgie angemessen ist.
Der folgende kleine Monolog ist übrigens kein Spoiler!
Tausend Meilen südlich von Hawaii liegt das von den USA kontrollierte Paimyra-Atoll. Einst ein Marinestützpunkt im Zweiten Weltkrieg, war es seitdem zumeist in Privatbesitz, bis es im Jahr 2000 von The Nature Conservancy für dreißig Millionen Dollar gekauft wurde. Seitdem halten sich auf Paimyra abwechselnd kleine Forschungsteams auf. Es gibt keine ständige Besiedlung oder wesentliche Infrastruktur. Alle Straßen, die die Navy angelegt hat, sind zugewuchert und unbenutzbar. Das ist dann auch schon alles: ein vergessenes tropisches Paradies, mehr nicht.
Aber das ist nicht die Wahrheit.
Das Atoll ist in Wirklichkeit eine „Black Site“, ein Geheimgefängnis der US-Regierung.
Ich weiß das, weil ich dort war.
Ich war auf einem Flug von Los Angeles nach Sydney. Ich nickte immer wieder ein, meine Medikamente hatten mich schläfrig gemacht.
Dann wachte ich von einer Ansage auf – wir mussten eine Notlandung auf einem Flugplatz südlich von Hawaii machen. Später habe ich rausgefunden, dass das nur auf dem Paimyra-Atoll gewesen sein konnte.
Mir war schlecht, und ich bat darum, kurz aussteigen zu dürfen.
Die Luft war frisch und das Wasser klar. Kleine Tiere huschten herum. Zu meiner Überraschung trafen wir auf eine englischsprechende Gruppe, alle sehr sauber und gut angezogen. Sie waren wohlversorgt und guter Dinge. Ich fragte sie, was sie hier machen, und sie haben mir folgendes erzählt:
Sie wurden alle entführt, unter ähnlichen Umständen. Nur wenige haben anscheinend verstanden, warum sie ausgewählt wurden, aber im Allgemeinen herrschte der Glaube, dass die US-Regierung und die CIA dahintersteckten.
Die Bewohner haben mir erzählt, dass unter ihnen sogar eine ganze Schulklasse sowie alle Fahrgäste einer U-Bahn waren, die allesamt entführt und auf dem Atoll ausgesetzt worden waren. Sie haben von ihren Kidnappern keine Erklärung erhalten und nie wieder etwas vom Rest der Welt mitbekommen.
Bei ihrer Ankunft wurden sie geimpft und auf Krankheiten untersucht. Sie wurden sterilisiert, um die Population zu kontrollieren. Man sagte ihnen, dass diejenigen, die kooperieren, hier den Rest ihres Lebens in abgeschiedener Glückseligkeit verbringen könnten, bedürfnislos und ohne Arbeit. Diejenigen, die sich weigerten, würden kurzerhand hingerichtet.
Neuankömmlinge sind verstört und verängstigt, werden aber von der kleinen Gemeinschaft herzlich aufgenommen. Während des Eingewöhnungsprozesses werden sie nie misshandelt, sondern es wird ihnen erlaubt, sich friedlich an ihre neue Lebenswirklichkeit anzupassen.
Sie sind nicht eingesperrt, es gibt keine Überwachung. Es gibt keine Aufseher. Soweit ich weiß, haben die Entführer keinerlei Gesetze aufgestellt. Es scheint, als ob die Gemeinschaft nach ihren eigenen Moralvorstellungen handelt.
Sie verhalten sich nicht wie Gefangene. Es gibt keine Hierarchie. Niemand hat das Sagen, keiner ist dem anderen überlegen. Sie baten mich noch nicht mal darum, ihnen bei der Flucht zu helfen oder ihre Familien zu benachrichtigen. Ein Mann sagte, er sei seit vierzig Jahren dort.
Ich habe gehört, dass sich auf dem Gelände viele glückliche Liebespaare befunden haben. Sie wohnen in komfortablen kleinen Holzhäusern. Sie haben Generatoren für Kühlschränke und Beleuchtung. Regelmäßig werden ihnen Lebensmittel geliefert, und einmal im Monat kommt ein Arzt.
Manchmal werden auch Bücher abgeworfen, eine kleine Bibliothek hat sich angesammelt. Die meisten davon stammen offenbar aus Bibliotheken aus dem Mittleren Westen, wo auch ich herkomme. Es gab sogar eines aus der Bücherei meiner Heimatstadt, auf der Ausleihkarte habe ich den Namen meines Grundschullehrers gefunden.
Ich habe eine Jugendliche gefragt, ob ich der Zivilisation eine Nachricht von ihr überbringen soll. Sie sagte nein.
Innerhalb von einer Stunde waren wir wieder in der Luft, und diese seltsame Begegnung blieb mir als diffuse Erinnerung, während ich wieder in den Schlaf sank.
Ich habe versucht, die Siedlung noch einmal aufzusuchen, aber Charterflügen ist es nicht erlaubt, auf dem Flugplatz zu landen. Offiziell wird das Atoll ausschließlich als Naturschutz-Forschungszentrum genutzt, aber ich kenne die Wahrheit.
Wenn ich heute die Gräueltaten sehe, die sich in den Nachrichten abspielen, frage ich mich, ob die betreffenden Opfer nicht bereits gefesselt und geknebelt im Flugzeug nach Paimyra sitzen. Es würde mich nicht wundern, wenn die Toten von Sandy Hook mit denen vom Boston Marathon jetzt dort zusammenleben würden, ohne zu wissen, welche Rolle sie in der Welt spielen.
Vielleicht sitzt Sabrina Gallo, während ich das hier schreibe, am Strand und schaut in den Sonnenuntergang. Vielleicht schlendert sie danach zum Gemeinschaftsplatz zurück, wo die Leute sich zum Essen und zum Kartenspielen unter dem Generatorenlicht versammeln. Vielleicht wird sie uns alle überleben. Mir so etwas Schönes vorzustellen, hilft mir einzuschlafen.
Ich hoffe, ihr glaubt mir, was ich sage.
Über meine Erlebnisse auf dem Paimyra-Atoll schreibe ich ein Buch, das ich als Self-Publisher im Frühjahr 2018 rausbringen werde. Über Spenden und Vorbestellungen würde ich mich freuen.
