Die wiedergefundene Textstelle: Prolog zum „Dritten Mann“

Betr.: 32. Todestag von Graham Greene

Der Kinoprolog ist eine meiner liebsten kurzen Textgattungen. Er ist in der Regel schlanker als die gedruckte Parallelversion, ohne inhaltlich etwas wegzulassen. Das gilt auch für „Der dritte Mann“ von Graham Greene, bei dem gewissermaßen beide Fassungen gemeinsam entstanden. Die Bilder sind so treffend gewählt, dass ganz wenige genügen, um ein dreidimensionales Bild entstehen zu lassen.
Dieser Text ist außerdem ein Musterbeispiel für die Tugend, zuerst die Kulisse aufzustellen und dann die Figuren hineinzuschicken. Auch Truman Capotes stilprägender Tatsachenroman „Kaltblütig“ geht so vor.* Kurioserweise hält sich der „Stern“, der mit seinem „literarischen Journalismus“ Capotes Buch viel verdankt, in seinen Artikeln grundsätzlich nicht an dieses Prinzip, sondern verteilt das Panorama nach einem Gleich-zur-Sache-Kommen auf unzählige Einschübe, was den Stil etwas geschwätzig macht.

Graham Greenes Prolog von 1948 wird im Film von einem mysteriösen Ich-Erzähler vorgetragen, der dann in die Perspektive des allwissenden Erzählers wechselt und verstummt. Der Roman verschenkt diesen herrlichen Kunstgriff und enthüllt uns den Erzähler. 

Offen gestanden, ich habe das alte Wien nicht gekannt, das leichtlebige Wien des Walzertraums. Konstantinopel lag mir näher. Ich lernte Wien erst nach dem Zweiten Weltkrieg zur Zeit des Schwarzen Marktes kennen, auf dem mit allem geschoben wurde, was die Leute brauchten – vorausgesetzt, dass sie es bezahlen konnten. Amateure dieses Fachs kamen dabei natürlich leicht unter die Räder, bzw. sie landeten in der Donau. Aber wer was von dieser Branche verstand, der konnte reich werden.
Wie Sie sich vielleicht noch erinnern, war die Stadt damals in vier Zonen aufgeteilt. Amerikaner, Engländer, Russen und Franzosen hatten je eine Zone besetzt, aber das Zentrum der Stadt war international. Die Polizei dort setzte sich aus diesen vier Mächten zusammen. Wundervoll, was man sich davon alles versprochen hatte. Es waren ganz brave Kerle, die alle ihr Bestes gaben.
Wien sah in jener Zeit nicht anders aus als andere Städte Europas: zerbombt und verhungert.
Ach, ich wollte Ihnen ja die Geschichte von Holly Martins erzählen, einem Amerikaner, der nach Wien kam, um seinen Freund zu besuchen. Der Freund hieß Harry Lime.
Martins hatte in Amerika Pech gehabt, mit einem Wort: er war pleite, und Harry Lime hatte ihn eingeladen, weil wie er schrieb in Wien für ihn etwas zu machen sei. Eines Tages kam er nun an, der arme Teufel, vergnügt wie eine Haubenlerche und ohne einen Cent in der Tasche.

Diese Textfassung stammt aus der zweiten Synchronfassung (1963), die im Fernsehen und auf Tonträgern lange Zeit die dominierende war. Sie ist so raffiniert, einen Steam-Punk-Effekt anzuwenden: der Erzähler tut so, als blickte er mit etwas Koketterie aus der Zukunft auf die Gegenwart zurück. So hält es auch der Autor Günter Neumann in einem anderen Trümmerfilm: „Berliner Ballade“, der wiederum den Schwarzmarkt thematisiert.**
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* Siehe https://blog.montyarnold.com/2022/11/19/21783/
** Siehe https://blog.montyarnold.com/2017/06/19/die-schoensten-filme-die-ich-kenne-30-berliner-ballade/

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