Der korrekte Klang des Klatsches

betr.: Sprechen am Mikrofon / Lesen vom Blatt

Der folgende kurze, in sich abgeschlossene Auszug aus dem ersten Kapitel des „Miss Marple“-Krimis „Mord im Spiegel“ von Agatha Christie enthält eine Textpassage, an der sich die Wichtigkeit von Schauplatz und sozialer Situation für den richtigen Vortragsgestus veranschaulichen lässt.

Bei einem Ausflug in die Neubausiedlung im Ort belauscht Miss Marple die Unterhaltung eines Pärchens. Der kleine Monolog, den sie der jungen Frau anschließend zuraunt, muss auf eine ganz bestimmte Art gestaltet werden, um überhaupt einen Sinn zu ergeben: eilfertig – also ohne Pausen (schließlich ist der Mann, vor dem gewarnt wird, fast in Hörweite), wohlüberlegt (Miss Marple hatte mehrere Minuten Zeit, sich die Worte zurechtzulegen), diskret und mit leicht schlechtem Gewissen, auf Punkt und Ende, denn eine Antwort ist nicht erwünscht und wird gar nicht abgewartet.
Damit kommen wir zu der Textgattung, mit der wir es hier zu tun haben: es ist – ungeachtet der guten Absicht, in der sie sich ereignet – Klatsch* (und Miss Marple ist sich der Delikatesse ihres Vorgehens durchaus bewusst). Im Erzähltext heißt es ganz treffend: „mit gedämpfter Stimme hastig“.

Klingt Miss Marples kleine Ansprache im Vortrag nicht nach Klatsch, sondern nach Smalltalk, Eheberatung oder wie aus dem Lesebuch, ist sie absurd. Wir verlieren unseren Zuhörer.

Nun stellen wir uns einmal vor, der selbe Text (die ersten beiden Sätze von Miss Marples kurzer Mahnung „Wenn ich Sie wäre, meine Liebe, würde ich ihn nicht heiraten. „Man braucht jemanden, auf den man sich in der Not verlassen kann.“) würde in einem anderen Kontext stehen. Die junge Frau bekäme ihn nicht von einer Unbekannten zugeraunt, sondern hörte ihn eingebettet in ein bereits laufendes Gespräch. Von ihrem Anwalt, ihrem Friseur oder ihrer Masseuse. Oder tatsächlich von einer Wahrsagerin.
Dann würde er sich jeweils völlig anders anhören.

Wie immer gilt: Die Idee, wie der Text zu gestalten ist, muss klar sein, bevor sich der Mund zur ersten Silbe öffnet.
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* Truman Capote war sogar der Meinung, jegliche Literatur sei Klatsch …

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