Endlich wiedergesehen: „Diva“

„Diva“ ist ein Kultfilm, was ich anerkenne, aber noch nie nachvollziehen konnte.* Ich wollte der Sache auf den Grund gehen, sah ihn erneut, und wieder ging er so vollständig an mir vorbei wie eine Schwangerschaftsgymnastik.

Der Postbote und Opernliebhaber Jules nimmt im Auditorium heimlich das Konzert einer gefeierten Opernsängerin auf, die dafür bekannt ist, Aufnahmen ihres Gesangs kategorisch abzulehnen. Bald weckt der rare Mitschnitt die Begehrlichkeiten mysteriöser Plattenbosse, die ihn an sich bringen und als Raubkopie herausbringen wollen. Parallel dazu wird noch nach einer anderen Aufnahme gefahndet: nach dem belastenden Tonprotokoll einer Prostituierten. Ehe sie von Killern zur Strecke gebracht wird, schmuggelt sie die Cassette in Jules’ Postbotentasche. Der Ahnungslose wird bald von Gangstern, Musikpiraten und der Polizei durch Paris gejagt. (Dieses Paris ist nicht die mehr der vertraute romantische Schauplatz, sondern fängt den kalten, androgynen Look der beginnenden 80er bereits vollständig ein.)
Die Plattensammlerin Alba – wie Jules mit kleptomanischen Neigungen behaftet – und der geheimnisvolle Zen-Jünger Gorodish helfen ihm. Und das ist gut so, denn der bindungslose, kunstsinnige junge Mann ist auf so viel Action und menschliche Verkommenheit in keinster Weise vorbereitet …

Auf dem Weg durch dieses Abenteuer wird dem Betrachter Allerhand zugemutet. Da sind die albernen Kinderkrimi-Dialoge, die ganze Kinderkrimi-Logik der Geschichte, die theatralischen Posen der Guten wie auch der Bösen, ihre unbewohnbaren Behausungen, die schlichte Absurdität des ganzen Plots, die damit beginnt, dass jeder andere ebenso leicht einen unerlaubten Konzertmitschnitt machen könnte wie es der Hobby-Tonbandfreund Jules getan hat (ganz abgesehen davon, dass nicht das Bandgerät für die Qualität der Aufnahme entscheidend ist, sondern die Mikrofonierung), und die mit der Leichtigkeit endet, mit der sich die augenrollenden Bösewichter-Karikaturen besiegen lassen, sobald die Spieldauer des Films abläuft. Die wichtigste Bezugsperson der Diva ist ein verschüchterter Knabe, der in seiner Briefträger-Uniform wie verkleidet aussieht und der bemerkenswert viel Zeit hat, in der er keine Briefe tragen muss. Dass hier eine glaubhafte Titelheldin mit einer gut ausgesuchten Arie antritt, stellt das restliche Figuren- und Darstellerensemble in seiner Unbedarftheit erst richtig bloß.
Die Macken, die den Debütfilm von Jean-Jacques Beineix auszeichnen, sind auch seinen Fans gewiss nicht entgangen. Wenn ein derart kruder Film so heiß geliebt wird, liegt das an einem Zauber, der jenseits solcher Kritik steht und der aus einer Sache mehr macht als die Summe ihrer Einzelteile.
Für den Ruhm von „Diva“ aber war der Zeitpunkt viel wichtiger: sein Erscheinen am Beginn der 80er Jahre. Denn das Publikum, das mit seiner Begeisterung den Kult begründete, fand sich zu einem Großteil in der europäischen schwul-lesbischen Subkultur zusammen, die wenige Jahre vor dem Siegeszug der Filme von Merchant Ivory Productions aus England („Zimmer mit Aussicht“, „Maurice“) und dem großen Durchbruch des spanischen Underground-Filmers Pedro Almodovár („Das Gesetz der Begierde“, „Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“) nichts Geeigneteres fand. Ab Mitte der 80er wurde Homosexualität nicht nur ganz offen im Film verhandelt, es verfeinerten sich auch die erzählerischen Mittel und Wege, sie lediglich anzudeuten (etwa in „Der Trost von Fremden“ mit dem offen schwulen Schauspieler Rupert Everett, der hier einen allerseits angeschmachteten Hetero spielt). Bald gab es so etwas sogar im Mainstream, und schwule Charaktere wurden gar oscarwürdig.
Im Jahre 1981 musste sich die Szene noch ein letztes Mal mit den losen Versatzstücken dieses heraufdämmernden Konzeptes zufriedengeben: mit der Grandiosität der „Diva“, einer weiblichen Kunstfigur, die auch in den privaten Szenen etwas Unerreichbar-Mondänes hat; mit der romantischen, aber asexuellen Zuneigung eines netten Jungen, der bis an den Rand der Lebensuntüchtigkeit verträumt und unreif gezeichnet ist; mit einer feindlichen Außenwelt, deren Repräsentanten (Killer, korrupte Bullen, geheimnisvolle Orientalen) so grotesk überzeichnet sind, dass man sich beim Verlassen des Kinos damit trösten kann: es ist ja nur ein Film.
Wäre „Diva“ nur fünf Jahre später herausgekommen, wäre er völlig unbemerkt geblieben. Er wäre für seine Zielgruppe schlicht überflüssig gewesen. Ohne die Kühnheit seiner Nachfolger vorwegzunehmen, kam er doch zur rechten Zeit und spendete Trost. Das kann ihm niemand mehr nehmen.
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* „Diva“ ist die Nr. 12 der „Wuppertaler Liste“ der 42 wirklichen Kultfilme. Siehe https://blog.montyarnold.com/2024/05/15/25283/

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