Let our affair be a gay thing (4)

betr.: Das Musical als schwule Kunstform für alle

Fortsetzung vom 29.6.2024

Mein Fazit: Homosexualität war beim Musical-Nachwuchs erfreulicherweise gar kein Thema mehr (zumindest kein abendfüllendes), und folglich hat auch die Begegnung mit einer selbstironischen Subkultur nicht mehr stattgefunden, die in den 80er Jahren ihre Blütezeit erlebte und danach langsam versickerte. (Von ihren Vertretern sind einige noch aktiv, etwa der Berliner Ades Zabel oder die noch gelegentlich konzertierende Diseuse Georgette Dee. Tim Fischer zählt bereits zur folgenden Generation.)*
Das ist gesellschaftspolitisch ein gutes Zeichen, verweist aber auch auf das historische / fachliche Desinteresse, das ich so häufig in unseren Musical-Ensembles angetroffen habe. Anders als in der Oper oder im Konzertbetrieb existiert dort so gut wie kein Archivbewusstsein.

Leider wird der Diskurs über sexuelle Identitäten mit der gleichen Verbissenheit geführt wie alle übrigen gesellschaftlichen Debatten. „Woke“ ist inzwischen ein Kampfbegriff, und das Niveau der Auseinandersetzung ist geeignet, die mühsam errungene Toleranz wieder zu zerstören.
In der kulturellen Werkstatt ist ein Wettbewerb darüber ausgebrochen, wer den triftigsten Grund haben könnte, beleidigt zu sein oder sich angegriffen zu fühlen. Als Reaktion darauf wird sich vor jedem Witz gefürchtet, der eine unschöne Diskussion (eine schlechte Presse, einen Shitstorm …) auslösen könnte. Leider ist Provokation das Wesen des Witzes.
Vor hundert Jahren wäre ein Porter, ein Coward, ein Hart um die Ecke gekommen und hätte die Misere im Kleinen, wohlverborgen und nebenbei überdeutlich, zu demontieren begonnen. Aber ach – die Zeiten sind nicht danach. 
Es sind vor allem Verantwortliche, keine kreativen Köpfe, die entscheiden, was sagbar ist und was nicht.
Nick-Martin Sternitzke: „Darüber wird heiß diskutiert, nicht nur im Musical-Business. Auch Streamingdienste stellen Richtlinien auf, wollen sichtbar machen, was Strukturen zu lange verhindert haben – vertrauen aber wenig auf das Abstraktionsvermögen des Publikums. Die Wirklichkeit treibt der Kunst die Fantasie aus.“

Inzwischen hat sich das Spektrum der Gender-Spielarten weiter aufgefächert, und Worte wie „schwul“ oder „homosexuell“ würden mir im Unterricht heute vermutlich als verkürzend und ausgrenzend um die Ohren gehauen.
Es war ein junger Hetero-Kollege, der mir sagte, er wundere sich über den Wandel der Sprachregelung innerhalb der „Community“. Früher hätten sich Schwule und Lesben als „gay“ bezeichnet (ursprgl.: 1. lustig, vergnügt, fröhlich; 2. lebenslustig; 3. farbenfroh …), heute würden sie sich „queer“ nennen (= ungewöhnlich, sonderbar, eigenartig, verdächtig, unwohl …). Das verstünde er nicht.
Ich konnte es ihm auch nicht erklären.

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* Siehe dazu auch die Einträge zu Effi Effinghausen, z.B. die hier beginnende kurze Serie zu seinem posthumen 70. Geburtstag, die Hamburgs schwule Subkultur insgesamt in den Blick nimmt: https://blog.montyarnold.com/2022/05/20/20705/

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