betr.: „X-Men ’97“ auf Disney+
Ich staune immer wieder, was man im Netz alles nicht findet. Selbst in der Abteilung „der heiße Scheiß“ muss man Abstriche machen. Zu der im März auf Disney+ gestarteten Trickserie „X-Men ‘97“ glaubte ich, mühelos die Inhaltsangaben der ersten Staffel zu finden (wie gewohnt gefertigt von den fleißigen Fans: ausführlich, wenn auch in schlechtem Deutsch). Pustekuchen. Es finden sich wenige Sätze zu den allerersten Episoden, danach nur Satzhülsen von der Sorte „Die X-Men müssen sich zusammenschließen, um einer neuen Bedrohung zu begegnen.“ (Übersetzungen aus der amerikanischen Marvel-Wiki, wo’s genauso trostlos aussieht).
Da die Comicheft-Serien um die „seltsamsten Superhelden der Welt“ (wie sie vor 50 Jahren in der deutschen Übersetzung genannt wurden) so zahlreich und vielgestaltig sind wie die Protagonisten selbst, hätte ich mich gern ein wenig orientiert, ehe ich einen Blick auf die Serie werfe.
Es war dann aber alles recht zugänglich (barrierefrei, wie man heute sagen würde).
Die Macher wählten sich einen geeigneten Punkt in der Marvel-Historie für die neue TV-Adaption. Und das Look-and-feel, um neben dem jungen Publikum von heute auch die Fans bestmöglich einzubinden, die vor knapp 30 Jahren die ersten bewegten Bilder der X-Men verfolgt haben: „X-Men: The Animated Series“ (1992-97, deutsch als „X-Men“). Die F.A.Z. dazu im Rückblick: „Die ‚X-Men‘ sind zugleich Beschützer der Menschheit und Ausgestoßene, weil die Gesellschaft sie fürchtet. Die Figuren wurden zur Chiffre für alle möglichen Randgruppen. Aber auch in anderer Hinsicht war die Serie bemerkenswert: Sie war ungewöhnlich komplex und besaß eine fortlaufende Erzählstruktur.“
Flammneu, aber ein vertrauter Anbick: die „X-Men ‘97“ Jubilee, Morph, Wolverine, Storm, Cyclops, Rogue, Jean Grey, Gambit, Bishop und Beast auf Disney+. – Bild: Marvel Animation
Die Handlung der neuen Serie setzt da an, wo es damals endete: Ein Jahr nach dem Tod von Prof. Xavier sind die jungen Superhelden noch immer erschüttert und gewöhnen sich nur mühsam daran, nunmehr von Cyclops angeführt zu werden. Doch dieser wird bald Vater werden und bespricht mit seiner Frau Jean Grey, den Rückzug aus dem Team anzukündigen.
Als bei den „Freunden der Menschheit“, einer Gruppe von Mutantenjägern (eine hochgerüstete Fascho-Armee, bei der wir sogleich an die „Proud Boys“ und ähnliche Vereine denken müssen) Waffen entdeckt werden, die mit der Sentinel-Technik des verschollenen Verbrechers Bolivar Trusk funktionieren, sind die X-Men wie auch Dr. Cooper von der UNO in großer Sorge.
Nun taucht auch noch der Superbösewicht Magneto in der Villa auf und präsentiert ein Testament, in dem ihn Prof. Xavier zu seinem Nachfolger bestimmt hat: zum neuen Hausherrn und Anführer der Gruppe. Begreiflicherweise misstrauen ihm die X-Men – und zweifeln der Richtigkeit dieser Entscheidung ihres toten Mentors.
Als die UNO über Magneto zu Gericht sitzen will, lässt er sich festnehmen und ein Neutralisierungs-Halsband anlegen, um seine Integrität zu beweisen. Die „Freunde der Menschheit“ unter der Führung des wahnhaften X-Cutioner überfallen das UNO-Gebäude, um den wehrlosen Mutanten zu töten. Doch Magneto kann mithilfe der X-Men sich und seine Richter retten. Er wird freigesprochen und sogar in der Xavier-Villa auf seinem Platz akzeptiert.
Nachts klopft eine Doppelgängerin von Jean an die Pforte des Hauses und erbittet die Hilfe der X-Men …
Dieser Cliffhanger beschließt die zweite Folge.
„X-Men ‘97“ ist ein interessantes formales Experiment. Stilistisch orientiert man sich am etwas statischen Design der damaligen Cartoon-Ära (ich musste immerzu an „He-Man“ denken …), ohne die heutige Eleganz vermissen zu lassen. Das hat drei große Vorteile: „X-Men ’97“ hebt sich von den anderen Serien des Streaming-Angebots mühelos ab, das Team sieht wieder so aus wie zu jener Zeit, als die gedruckten Comics den größten Erfolg hatten und – das Wichtigste! – die Erzählung spielt zu einer Zeit, als wir noch nicht von Handys und anderen Alltagscomputern genervt wurden. Alle Rechner, die hier laufen, sind Profi-Geräte aus der Unterwelt bzw. aus dem Superhelden-Arsenal. Die Monitore sind noch größer als unsere zu Hause.
Wer zuletzt eine Live-Action-Serie gesehen hat, wird einen kurzen Moment brauchen, um sich wieder zu erinnern: in klassischen Action-Cartoons wurde ein enormes Erzähltempo vorgelegt. Schlachten, die im Kino oder auf Netflix bis zu einer halbe Stunde dauern, gehen hier ruck-zuck über die Bühne und passen nebst allem Übrigen in eine Episode der nämlichen Länge. Das ist auch diesmal wieder so. Wer das Böse also gern zwischendurch auf’s Kreuz legt, der kann Cyclops‘ Ruf im Titel der ersten Episode folgen: „Zu mir, meine X-Men“!