Glotzen ist nicht gleich Glotzen

Michael Haneke erklärt im Gespräch mit Olivier Père den Unterschied zwischen der Arbeit für das fiktionale Fernsehen und der für das Kino folgendermaßen: „Die beiden Medien sind sehr unterschiedlich. Dass ich einen Fernsehfilm sehe, ist ein Zufall. Das Kinopublikum hat sich auf den Weg gemacht. Es hat sich entschieden, einen Film zu sehen und eine Karte gekauft. Das heißt, es will sich dem Film wirklich aussetzen und sich mit ihm konfrontieren. Das Fernsehpublikum tut meistens gerade etwas anderes, ist dabei zu essen, sich mit der Familie auseinanderzusetzen etc. Als Regisseur muss ich ganz andere dramaturgische und ästhetische Mittel einsetzen, um den Zuschauer zu erreichen. Im Kino kann ich ihn herausfordern und ihm auf Augenhöhe begegnen. Dort sind subtilere Mittel möglich. Im Fernsehen muss alles so einfach erzählt werden, dass man auch, wenn man zwischendurch mal draußen war, den Faden wiederfindet.“

Passend zu dieser Gewichtung stand das Fernsehen gut 50 Jahre lang in der Bewertung durch Branche, Kritik und Publikum weit unter dem Kino. Es war nicht nur sein historischer Nachzügler (in Verbindung mit dem ebenfalls vorangegangenen Rundfunk), es war kleiner (die Amerikaner sprechen von „the small screen“, der kleinen Leinwand), technisch minderwertiger und mit kleineren Budgets ausgestattet. Dass man hier schneller auf die Zeitläufte reagieren und ein weitaus größeres Publikum erreichen konnte (vor allem in Deutschland mit seinem viel kleineren Markt für einheimische Produktionen), änderte an diesem Ansehensunterschied nichts.

Dann lösten sich diese Differenzen auf – wenn auch nur scheinbar. Die Bildschirme wurden immer größer und die Inhalte immer hoch-auflösender. Rein optisch sieht heute jede Serienepisode wie ein Kinofilm aus. Um die Jahrtausendwende schien das Medium für kurze Zeit auch erzählerisch dem Kino den Rang abzulaufen. Die anspruchsvollen Serien des Bezahlsenders HBO setzten einen neuen qualitativen Standard und warteten mit einem neuen Pluspunkt auf: in einer über Wochen und Monate erzählten Geschichte lassen sich Charaktere viel gründlicher entwickeln und auserzählen. Der Boom, den das Serienfernsehen daraufhin erlebte, beruhte allerdings eher auf dem Vorurteil bzw. dem Versprechen, jede „moderne“, „episch erzählte“ Serie würde fortan die Qualität von „Die Sopranos“ oder „Breaking Bad“ haben, als auf dessen Einlösung. Außerdem gilt weiterhin, was John Cleese einmal so ausdrückte: „Nichts unterhält die Leute so gut wie eine 90minütige Geschichte.“ Ein erheblicher Teil von ihnen mag sich schon aus Zeitgründen prinzipiell nicht auf ein Entertainment einlassen, das seine Aufmerksamkeit auf Monate bindet.

Die von Michel Haneke bemerkten Unterschiede bestehen fort, wenn sie auch durch zwei Aspekte verwässert werden. Nicht jeder Filmemacher will die beschriebene Bereitschaft des Publikums nutzen und es in Hanekes Sinn herausfordern. Es steht jedem Regisseur frei, dem Publikum eben nicht auf Augenhöhe zu begegnen.* Weiterhin sorgt die serielle Struktur (die wir längst auch im Kino finden) dafür, dass wir den Faden wiederfinden können, auch wenn wir zwischendurch mal draußen waren.

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* Die kommerziell erfolgreichsten Regisseure tun alles andere als das, siehe https://blog.montyarnold.com/2024/08/06/steven-spielberg-duel/

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