Über die mentalesische Brücke (1)

betr.: Lesen vom Blatt / Sprechen am Mikrofon

Es gibt dieses alte Klischee, nach dem eine Fremdsprache derjenige wirklich beherrscht, der in dieser Sprache träumt. Das klingt munter und erstrebenswert, aber kann es wahr sein?
Viel spricht dafür, dass unser Denken nicht in ausformulierten Sätzen geschieht – und somit auch unter Träumen nicht. Wir beginnen schließlich früher zu denken als wir sprechen können. Und geistig flinke Menschen sind nicht unbedingt eloquent – und umgekehrt. Der Beruf des Schriftstellers wäre viel einfacher, wenn mit jeder Überlegung auch schon eine erste Fassung ihrer Niederschrift in unserem Hirn entstünde. Natürlich gibt es auch ein Hantieren mit Worten und Sätzen in unseren Denkprozessen, aber das ist nur ein Teil davon.

In seinem Buch „Der Sprachinstinkt“ legt der Kognitionsforscher Steven Pinker weitere Argumente vor, die gegen das buchstabierbare Träumen sprechen. Im Grunde spricht er vom Kopfkino (jener Bebilderung des Gelesenen, die für den guten Vortrag vom Blatt so unerlässlich ist), wenn er erklärt, dass „Sprache nicht dasselbe ist wie Denken. In meiner Doktorarbeit habe ich über eine geistige Fähigkeit geforscht, die nichts mit Sprache zu tun hat, nämlich über Bilder – die Fähigkeit, sich Dinge vorzustellen, die man gerade nicht sieht. Das ist eine von mehreren Formen der mentalen Repräsentation neben den Worten, in denen wir denken. Aber es geht eben noch abstrakter. Der schöne Ausdruck ‚Mentalesisch‘ stammt von meinem Kollegen Jerry Fodor.“

Ein Beispiel: „Wenn wir wissen, dass zwei Sätze synonym sind, also die gleiche Bedeutung haben, dann sind diese beiden Sätze zwei distinkte Arten, dieselbe mentalesische Sache in Sprache zu kleiden. Mentalesisch ist abstrakter als konkrete Sätze. Das begegnet uns auch, wenn wir eine Textpassage lesen und uns danach zwar nicht an den Wortlaut erinnern, aber doch den Kern, den Inhalt kennen. Oder wenn es uns schwerfällt, unsere Gedanken Worte zu fassen.“
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Die Zitate stammen aus einem Interview mit dem Kognitionspsychologen Steven Pinker im „Zeit-Magazin“ Nr. 43 vom 10.10.2024.

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