Prima vista 0,5: „Die Katzen von Ulthar“

betr.: Lesen vom Blatt / Übung

Eine Prima Vista Lesung in abgemilderter Form lässt sich durchführen, wenn man sich verschiedene Übersetzungen der selben Textpassage vornimmt: die erste wird still gelesen, die zweite laut.
Der Inhalt ist bekannt, der Wortlaut ändert sich.

Heutiges Beispiel aus „Die Katzen von Ulthar“ von H. P. Lovecraft

Variante 1:

Es heißt, in Ulthar, das jenseits des Flusses Skai liegt, darf niemand eine Katze töten; und wenn ich sie betrachte, die am Feuer sitzt und schnurrt, kann ich das durchaus glauben. Denn die Katze ist kryptisch und vertraut mit seltsamen Dingen, die den Menschen verborgen sind. Sie ist die Seele des alten Aigyptos und Trägerin von Geschichten aus vergessenen Städten in Meroe und Ophir. Sie ist vom Geschlecht der Herren des Dschungels und Erbin der Geheimnisse des ehrwürdigen und sinistren Afrika. Die Sphinx ist ihre Cousine, und sie spricht ihre Sprache; aber sie ist viel älter als die Sphinx und erinnert sich an das, was jene vergessen hat.
In Ulthar lebten, bevor die Bürger das Töten von Katzen überhaupt verboten, ein alter Kätner und dessen Frau, die ihr Vergnügen daran fanden, die Katzen ihrer Nachbarn in Fallen zu fangen und umzubringen. Warum sie dies taten, ich weiß es nicht; außer, daß vielen die Stimme der Katze in der Nacht verhaßt ist und sie es übel aufnehmen, daß Katzen im Zwielicht verstohlen über Höfe und Gärten huschen. Doch aus welchem Grund auch immer, diesem alten Mann und seiner Frau machte es Spaß, jede Katze zu fangen und umzubringen, die in die Nähe ihrer elenden Hütte kam; und wegen mancher Laute, die nach Einbruch der Dunkelheit erklangen, stellten sich viele Einwohner vor, daß die Art des Umbringens mehr als eigentümlich war. Doch die Leute sprachen mit dem alten Mann und seiner Frau nicht über solche Dinge; das lag an dem habituellen Ausdruck auf den verwelkten Gesichtern der beiden und daran, daß ihre Hütte so klein war und so dunkel verborgen unter den Eichen hinter einem vernachlässigten Hof lag. So sehr wie die Katzenbesitzer diese merkwürdigen Leute haßten, fürchteten sie sie in Wahrheit doch mehr; und anstatt sie als brutale Meuchelmörder anzugehen, besorgten sie nur, daß sich kein umhegter Liebling oder Mäusefänger zu dem abgelegenen Schuppen unter den dunklen Bäumen verirrte.

Übersetzung: Michael Walter für die „Phantastische Bibliothek“, Suhrkamp 1997 / 1980

Variante 2:

Man erzählt sich, dass in Ulthar, jenseits des Flusses Skai, niemand eine Katze töten darf; und ich bin durchaus willens, dem Glauben zu schenken, während ich jene betrachte, die schnurrend vor dem Kamin sitzt. Denn die Katze ist rätselhaft und steht den seltsamen Dingen nahe, die für Menschen unsichtbar sind. Sie ist die Seele des antiken Ägyptos, und mit ihr kamen Geschichten aus vergessenen Städten in Meroë und Ophir. Sie ist verwandt mit den Herren des Dschungels und erlebte die Geheimnisse des uralten und finsteren Afrika. Die Sphinx ist ihre Cousine, und sie spricht ihre Sprache. Aber sie ist älter als die Sphinx und erinnert sich an das, was jene vergessen hat.
Lange bevor die Bürger das Töten von Katzen verboten, lebten in Ulthar ein alter Kleinbauer und seine Frau, die sich daran ergötzten, die Katzen ihrer Nachbarn zu fangen und zu töten. Warum sie dies taten, weiß ich nicht; obgleich viele die nächtlichen Gesänge der Katzen hassen und es übelnehmen, dass Katzen in der Dämmerung durch Höfe und Gärten schleichen. Doch dieses alte Ehepaar fand, weshalb auch immer, Vergnügen daran, jede Katze, die sich ihrer Kate näherte, zu töten; und eingedenk einiger nach Einbruch der Nacht vernommener Geräusche stellten sich viele Dörfler vor, dass die Tiere auf ganz sonderbare Weise getötet wurden. Die Dörfler sprachen jedoch nie mit dem Alten und seiner Frau über solche Dinge; wegen des berüchtigten Ausdrucks in den verwirrten Gesichtern der beiden und weil ihr Häuschen so klein war und in einem finsteren Winkel, im Schatten ausladender Eichen am hinteren Rand eines vernachlässigten Hofes stand. Um die Wahrheit zu sagen – sosehr die Katzenbesitzer diese kauzigen Leute auch hassten, sie fürchteten sie noch viel mehr; und anstatt sie brutale Mörder zu schimpfen, achteten sie lediglich darauf, dass kein geschätztes Haustier und kein geschätzter Mäusejäger sich je in Richtung der abgelegenen Bruchbude unter die dunklen Bäume verirrten.

Übersetzung von Andreas Fliedner und Alexander Pechmann für „H. P. Lovecraft – Das Werk II“, FISCHER Tor 2021

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