Die schönsten Filme, die ich kenne (109): „Die Klavierspielerin“

Nur im Deutschen funktioniert die feine Doppelbödigkeit im Titel dieser österreichisch-französischen Koproduktion und ihrer literarischen Vorlage von Elfriede Jelinek: „Klavierspielerin“ hat einen etwas abfälligeren Unterton als das scheinbar gleichbedeutende Wort „Pianistin“. Doch mangelnde Virtuosität ist nicht das Problem der Titelfigur.

Die verhärmte Enddreißigerin Erika Kohut (Isabelle Huppert) ist als Pianistin auf höchstem Niveau gescheitert und lehrt nun als respektierte Klavierdozentin am Wiener Konservatorium. Ihre unerfüllte Sehnsucht nach Mutterliebe lässt sie nicht nur noch immer mit der tyrannischen alten Dame zusammenleben, sie teilt sogar das Schlafzimmer mit ihr. Emotional wie körperlich hält Erika alle auf Distanz, nur in Pornokinobesuchen, echtem Voyeurismus und Selbstverletzungen lebt sie so etwas wie Sexualität aus. Ihre Frustration setzt sie in sadistische Strenge gegenüber ihren Studenten um.
Auf einem Hauskonzert trifft sie den jungen Walter Klemmer (Benoît Magimel), der nicht nur künstlerisch von ihr fasziniert ist. Er bemüht sich, in ihrer Klasse aufgenommen zu werden. Sie will das verhindern, muss ihn jedoch wegen seiner Eignung akzeptieren. Gegen seine Avancen setzt sie sich umso verbissener zur Wehr – obwohl die Anziehung gegenseitig ist. Erikas Verklemmtheit erlaubt ihr keine andere Reaktion als Walter die Abfassung einer Liste mit sadomasochistischen Forderungen und Spielregeln. Walter ist davon abgestoßen – nicht zuletzt von der Lächerlichkeit dieses Schriftstücks.
Die Beziehung der beiden wird gewalttätig – nicht nur für Erika und Walter …

Michael Haneke lässt uns zu Beginn seines Psychodramas den Hochschulalltag intensiv miterleben, damit uns das Konfliktpotenzial von dessen herausforderndem Gegenstand (der Interpretation klassischer Musik) begreiflich wird, auch wenn wir den Film als musikalische Laien betreten. (Schuberts „Winterreise“ wird zum Soundtrack eines zum Hochleistungssport erkalteten Kunstverständnisses.) Dass dem Regisseur diese Nachvollziehbarkeit auch bei den Neurosen seiner Figuren gelingt, liegt an der großartigen Besetzung und an der Synchronarbeit von Rosemarie Fendel und Corinna Harfouch als Mutter und Tochter (obwohl Haneke glaubhafte Synchronisation als ein unlösbares Problem betrachtet).
Zwar sind mir nur die wenigsten der hier gezeigten Ungeheuerlichkeiten persönlich widerfahren oder in meiner Umgebung aufgefallen, dennoch leuchten sie mir psychologisch ein. Hanekes erster Kinofilm war ein Erfolg, aber auch eine wohlkalkulierte Zumutung. Ein Schauspielschüler, der mir bei Schulaufführungen mehrfach als hochbegabter Instinktschauspieler aufgefallen war, kommentierte ihn mit der Frage: „Warum drehen Menschen solche Filme?“

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