Lesen vom Blatt: Lange Sätze

Minder ambitionierte Mikrofonpersönlichkeiten verraten sich u. a. dadurch, dass sie sich bei Ton und Regie über die Länge ihrer Sätze beklagen. Das geflügelte Schimpfwort „Bandwurmsatz“ bringt dieses Gefühl zum Ausdruck, doch wir wollen dem Volksmund zugutehalten, dass das meiste, was so gesagt und geschrieben wird, tatsächlich gern kürzer ausfallen dürfte.
Ein gut gebauter langer Satz ist deshalb lang, weil er auf diese Weise Inhalt und Lesevergnügen dienlicher ist als es mehrere kurze Sätze des gleichen Informationsgehaltes  wären. Für den Vorleser hält das den Vorteil bereit, den Zuhörer die Länge nicht spüren zu lassen, während dieser trotzdem in den Genuss der genannten Vorzüge kommt.

An dieser Stelle sollen in der nächsten Zeit einige Übungsbeispiele präsentiert werden, deren Verfasser unverdächtig sind, einen Satz unnötig zu verlängern oder zu komplizieren.
Wir beginnen mit dem Anfang* eines der schönsten Prosatexte, die je in deutscher Sprache verfasst wurden: „Dr. Murkes gesammeltes Schweigen“ von Heinrich Böll.

Jeden Morgen, wenn er das Funkhaus betreten hatte, unterzog sich Murke einer existenziellen Turnübung: er sprang in den Paternosteraufzug, stieg aber nicht im zweiten Stockwerk, wo sein Büro lag, aus, sondern ließ sich höher tragen, am dritten, am vierten, am fünften Stockwerk vorbei, und jedesmal befiel ihn Angst, wenn die Plattform der Aufzugkabine sich über den Flur des fünften Stockwerks hinweg erhob, die Kabine sich knirschend in den Leerraum schob, wo geölte Ketten, mit Fett beschmierte Stangen, ächzendes Eisenwerk die Kabine aus der Aufwärts- in die Abwärtsrichtung schoben, und Murke starrte voller Angst auf diese einzige unverputzte Stelle des Funkhauses, atmete auf, wenn die Kabine sich wieder eingereiht hatte und langsam nach unten sank, am fünften, am vierten, am dritten Stockwerk vorbei; Murke wusste, dass seine Angst unbegründet war: selbstverständlich würde nie etwas passieren, es konnte gar nichts passieren, und wenn etwas passierte, würde er im schlimmsten Fall gerade oben sein, wenn der Fahrstuhl zum Stillstand kam, und würde eine Stunde, höchstens zwei dort oben eingesperrt sein.

Weil es so schön war, sehen wir rasch (und ausnahmsweise!) nach, wie der Absatz nach dem ersten Satz zuendegebracht wird:
 
Er hatte immer ein Buch in der Tasche, immer Zigaretten mit; doch seit das Funkhaus stand, seit drei Jahren, hatte der Aufzug noch nicht einmal versagt. Es kamen Tage, an denen er nachgesehen wurde, Tage, an denen Murke auf diese viereinhalb Sekunden Angst verzichten musste, und er war an diesen Tagen gereizt und unzufrieden, wie Leute, die kein Frühstück gehabt haben. Er brauchte diese Angst wie andere ihren Kaffee, ihren Haferbrei oder ihren Fruchtsaft brauchen.
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* Zum Umgang mit Textanfängen siehe https://blog.montyarnold.com/2020/11/08/16948/ und die Fortsetzungen.

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