Endlich enthüllt: Das Welterfolgrezept!

betr.: „La Cage Aux Folles“ in Berlin und anderswo

Der lange Arm des Mainstreams streckt sich nach mir aus, und ich entrinne seinen klebrigen Klauen nicht. Weit weg von Berlin, wo eine aktuelle Inszenierung von „La Cage Aux Folles“ ihren unerbittlichen Lauf nimmt, suchen mich die dumpfbackigen Schlager des schlechtesten, aber bei weitem populärsten Musicals von Jerry Herman heim, das wie eine benutzte Windel auf dem Oevure des großen Songschreibers und Theatermachers liegt.
Die Sicherheitslücke, durch die dieser Mief bei mir hereinwehen konnte, ist meine Radio-Lieblingssendung. Ihr Moderator Kai Luehrs-Kaiser (als Funk-Feuilletonist ebenso glanz- und verdienstvoll wie es Jerry Herman am Broadway war) lobte das Werk nicht nur in zwei Ausgaben, er servierte auch jeweils zwei Songs daraus. – Ich hatte tatsächlich vergessen, wie handwerklich schlecht der Gesang auf dem Original Broadway Cast Album ist. Die Ur-Interpretation von „I Am What I Am“ lässt jede speech qualitiy vermissen, auf die sie es ganz offensichtlich anlegt – und das ist ein sachlicher, kein geschmacklicher Einwand.
Das Unausstehliche an „La Cage Aux Folles“ (dem Musical, nicht dem zugrundeleigenden Film!), ist auch der Schlüssel zu seinem Erfolg; das ist menschlich nachvollziehbar, aber eben kein künstlerisches Kriterium: das heuchlerische Aroma der Show, das konservativen Kleinbürgern für drei Stunden erlaubt, sich tolerant vorzukommen, und reifen Homosexuellen, die Trauer über den Lauf der Dinge zur frechen Lebensphilosophie umzudeuten.  
Aber eben nur für drei Stunden! Nach dem Verlassen des Theaters kehren die vermeintlich Geläuterten, die so einträchtig im Auditorium beieinandergesessen haben, in ihr jeweiliges Lager zurück und regenierieren ihre Vorbehalte.
Das alles wäre halb so schlimm, wären die Melodien nicht so seicht und vulgär. Oder treffender: so frivol! So schnell sie mir ins Ohr gehen, so rasch vergammeln sie dort.

Jerry Herman dürfte mit keinem seiner Werke – ausgenommen vielleicht „Hello, Dolly!“ – so viel Geld verdient haben wie mit diesem Ausverkauf eines Teils seiner Identität – was ihm angesichts zweier genialer Flops ausdrücklich gegönnt sei.* Dem Publikum beim Selbstbetrug zu assistieren, ist heute mehr denn je eine sichere Einnahmequelle. Billiger Trost und braver Kitsch garantieren den ganz großen Erfolg, solange das Marketing stimmt. (Steven Spielberg holt sich sein nächstes Stück von dieser Torte auch gerade wieder ab!)
Wie das im Falle von „La Cage Aux Folles“ vor sich geht, verriet der US-Wissenschaftsautor Daniel H. Pink als er auf das Vermächtnis-Chanson von Edith Piaf angesprochen wurde. Wir erinnern uns: drei Jahre vor ihrem Tod mit 47 hatte die große Chansonniere sich ihren selbstverachtenden Lebenswandel schöngeträllert und damit das – zumindest hierzulande und in meiner Lebensspanne – populärste Lied ihres reichen Repertoires hervorgebracht: „Non, je ne regrette rien“.
Pink: „Es ist für mich schwer vorstellbar, dass Edith Piaf all die Entscheidungen feiert, die ihr das Leben so schwer gemacht haben. Für mich ist das eine Pose, was okay ist. Sie hat sich als Künstlerin inszeniert, und das hat sie interessant gemacht. Diese Pose passt zum Diktum der modernen Gesellschaft: Schaue niemals zurück, nur nach vorne, bereue nichts! Das ist bequem. Aber das ist Unsinn und sogar gefährlich.“     
Damit ist Pink auch dem Erfolgsgeheimnis von „La Cage Aux Folles“ auf der Spur – obwohl dessen Figuren (im Gegensatz zu der real existierenden Edith Piaf) nicht sterblich sind, obwohl in dieser Show nicht zurückgeschaut, sondern an sich heruntergesehen wird, und obwohl hier nicht begangene Sünden geschönt werden, sondern ihr Unterlassen bzw. ihre Verdängung. „La Cage Aux Folles“ ist ein Freudenfest für Kaninchenzüchter, denen Selbstoptimierung zu anstrengend ist.
 
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* Siehe https://blog.montyarnold.com/2017/06/05/broadways-like-that-60-ein-geliebter-reinfall/https://blog.montyarnold.com/2021/10/29/dear-world-eine-welt-mit-wurm-drin/ etc.

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