betr.: das Deutschlandradio-Feature: „Mit dem frischen Blick der Späteren – Literarische Neuübersetzungen“*
Es ist ein geflügeltes Wort in Verlags- und Feuilletonkreisen: Jede Generation hat ein Anrecht darauf, fremdsprachige Literatur bzw. Literaturklassiker in einer zeitgenössischen Übersetzung zu lesen. Astrid Nettlings Feature „Mit dem frischen Blick der Späteren – Literarische Neuübersetzungen“ drückt es an einer Stelle noch etwas provokanter aus: Übersetzungen altern, Originale nicht.
Auch für jene, denen dieser Ansatz in dieser kategorischen Form nicht geheuer ist, ist bietet die Sendung eine Fülle von Argumenten und Denkanstößen.
Ich bin durchaus nicht der Meinung, dass zwischen der Alterung von Originaltexten und denen einer Übersetzung ein grundsätzlicher Unterschied besteht. Beide Textgattungen altern – selbstverständlich. Und in ihrem Alter liegt bereits ein Teil ihrer Aussage bzw. ihres Wertes. Das Zeitkolorit ist ein Teil der Erzählung wie auch ihrer Übersetzung, ganz wie in einem Sachbuch. Schließlich will ich in einem Geschichtsbuch nicht lesen, wie gepflegt und humanistisch es während des Algerienkrieges zugegangen ist (um mir eine Freude zu machen), wenn das nicht der Wahrheit entspricht. Veraltete Redewendungen in einem fiktionalen Text lasse ich mir lieber in einem Glossar erklären, als dass mich ein wohlmeinender Überarbeiter davor beschützt, indem er sie durch Begriffe zu ersetzt, die einige Jahre später ihrerseits veraltet sind.
In der Sendung wird deutlich, dass es drei Gründe gibt, aus denen man eine Neuübersetzung vornehmen kann und unter deren Berücksichtigung man sie beurteilen sollte. Jeder Bücherfreund wird im Einzelfall zu einem anderen Ergebnis kommen (es sei denn, er verdient daran oder profitiert sonstwie von der neuerlichen Bearbeitung).
Da gibt es zum einen die Beseitigung von Übersetzungsfehlern oder von Verfälschungen, die vorgenommen wurden, um dem damaligen Zeitgeist besser zu entsprechen (in jedem Fall eine üble und behebenswerte Manipulation, wann auch immer sie geschieht).
Anders verhält es sich mit dem Glätten aus heutiger Sicht unbehaglicher Formulierungen, die ich in historischen oder journalistischen Texten gern geändert sehe, aber in einem Roman gern weiterhin lesen würde, soweit sie aus der selben Epoche stammen wie der Urtext. Die Literaturübersetzerin Bettina Abarbanell ist im Feature hingegen der Ansicht, „dass wir immer mehr Kenntnisse haben, wie man von einer Sprache in eine andere übersetzen kann, und auch ganz andere Möglichkeiten der Recherche. Klassischer Fall, es kommen ‚coloured people‘ vor, das ist in der alten Übersetzung noch mit ‚Farbige‘ übersetzt, das würde man nicht mehr tun.“ Für mich wäre ein solcher Ausdruck wissenswerter Teil des Zeitkolorits (und ein Fall für den kritischen Anhang).
Das dritte Motiv für eine Neuübersetzung: die ästhetische Überarbeitung. Sie ist schon beinahe eine Geschmacksache, aber es ist erfreulich, dass sich damit beschäftigt wird. Wolfgang Matz, Übersetzer von Julien Greens Roman „Treibgut“ aus dem Paris der 30er Jahre, berichtet: „Worum es mir stilistisch geht, ist, dass die Sätze in sich auch eine Haltung haben, einen Anfang und ein Ende. Und da hat der Übersetzer immer ein Problem: Diese typisch deutsche Sache mit der Inversion, dass Sätze so häufig mit Teilen von Verben enden, mit abgetrennten Präfixen: Nach vielen Stunden fing er zu sprechen — an.“
Der Übergang von solchen Reparaturen hin zu der Korrektur inhaltlicher Fehler ist fließend. Der Proust-Neu-Übersetzer Bernd-Jürgen Fischer erzählt: “Gerade bei der direkten Rede hatte ich oft den Eindruck, dass die Leute in Prousts Text bei weitem nicht so literarisch reden wie in den bisherigen Übersetzungen. Natürlich der erzählende Text, Proust selbst, der ist ja hochgradig literarisch, aber wenn die Leute selbst sprechen, es ist eben doch der Umgangssprache sehr viel näher. Da ein bisschen mehr Schwung reinzubringen, war mir schon wichtig und hat mir auch Spaß gemacht.“ Er liefert den Haken an der Sache gleich mit: „Proust hat seine Figuren die Sprache ihrer Zeit sprechen lassen. Also, warum sollen dann die Leute in den Übersetzungen nicht so reden, wie sie es nun mal zur Zeit der Übersetzung tun würden.“
Ohne das Beispiel genauer studiert zu haben (gerade Prousts Hauptwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ist ja schon aufgrund seiner Länge nicht das ideale Werk, um einen solchen Vergleich gründlich anzustellen), würde ich eine alte Übersetzung vorziehen, die dem Sound der beschriebenen Epoche näher ist. Aber wie nahe ist sie ihr wirklich?
Wolfgang Matz kommt mir da entgegen: „Die Grenze des Wortschatzes muss die zeitliche Grenze der Entstehung des Buches sein. Man darf den Wortschatz der Zeit bis an die Grenzen ausschöpfen, aber man darf ihn nicht überschreiten.“
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