Von „Alles, was wir geben mussten“ kenne ich nur die britisch-amerikanische Filmversion von 2010, doch alles deutet darauf hin, dass bereits die Romanvorlage von Kazuo Ishiguro großartig ist, und sogar die Regietheaterfassung (Braunschweig 2021) soll gar nicht übel sein.
Kathy (Carey Mulligan), Tommy (Andrew Garfield) und Ruth (Keira Knightley) wachsen in einem Internat in der englischen Einöde auf. Die Direktorin Miss Emily (Charlotte Rampling in einer gewohnt abgründigen Rolle) betont immer wieder, bei Halisham handele es sich um keine gewöhnliche Schule. Inwiefern das nicht das übliche Gelaber ist, wird den Kindern eines Tages von einer freigeistigen Lehrerin verbotenerweise verraten. Die komplette Abschottung von der Außenwelt, die ständigen ärztlichen Untersuchungen der Kinder haben einen entsetzlichen Grund: sie sind Klone, die ihren Originalen als Organspender dienen werden, sobald sie das junge Erwachsenenalter erreicht haben. Ihr Tod, üblicherweise nach der dritten „Spende“, wird zur „Vollendung“ schöngeredet.
Vor diesem Hintergrund entfaltet sich das kurze Leben der Zöglinge.
Kathy und Tommy, die schon immer eine besondere Beziehung zueinander hatten, werden kein Liebespaar, weil sich die Dritte im Bunde, Ruth, dazwischendrängt. Sie tut das weniger aus Liebe, wie sie später gestehen wird, als vielmehr aus Eifersucht auf das sich anbahnende Glück der beiden anderen Todgeweihten.
Auch aus Kummer über diese Entwicklung bewirbt sich Kathy als Betreuerin, schiebt damit ihre eigene Ausweidung ein wenig auf und verliert ihre Jugendfreunde aus den Augen. Das Wiedersehen mit ihrer unerfüllten Liebe Tommy, wenige Jahre später, ist zugleich ein Abschied …
Die jungen Menschen in dieser Geschichte nehmen ihre völlige Rechtlosigkeit als so selbstverständlich hin, dass sie gar nicht auf den Gedanken kommen, dagegen aufzubegehren. Es ist nicht einmal nötig, sie einzusperren oder aufwendig zu bewachen. Lediglich eine gewisse elektronische Kontrolle erinnert uns daran, dass wir es hier mit einer Dystopie zu tun haben.
Deren genretypische Tücken werden gekonnt unterlaufen: die Handlung spielt nicht in der Zukunft, sondern in einer Parallel-Vergangenheit (zuletzt in den 90er Jahren), in der die Medizin bereits vollbracht hat, was ihr in der Realität erst noch gelingen wird. Auf die Alltagsgesellschaft, die diese grausame Praxis offenbar duldet, erhaschen wir nur einen flüchtigen Blick auf einem verschämten Ausflug, den die Helden dorthin unternehmen. Gerade von der gemütlichen Spießigkeit dieser Normalität, von der keine Hilfe zu erwarten ist, geht eine große Verstörung aus. Der kluge Verzicht auf eine Horrorvision aus Gotham-City-Schnickschnack und einem augenrollenden Diktator oder Organ-Dealer im Hintergrund ist vermutlich Kazuo Ishiguro zu verdanken, der entscheidenden Anteil an der filmischen Umsetzung seines Romans hatte.
Die Indoktrination, die dieses Unrecht möglich macht, wird von einer Internatschefin gelenkt, deren Talente und Ambitionen den Opfern immerhin ein Aufwachsen außerhalb einer anonymen „Legebatterie“ ermöglichen. Überhaupt ist ihr Institut bei aller Strenge so märchenhaft schöngeistig gezeichnet, dass der Gedanke ein wenig viel verlangt ist, es würde auf britischem Boden betrieben – im Hauptland der systematischen Schikane und Misshandlung junger Menschen in Internaten.
Auch die Schlussworte in Kathys Monolog sind bedauerlich, formulieren sie doch nur aus, was wir längst selbst begriffen haben.
Ansonsten lässt sich dieser Film nichts zuschulden kommen.
Die drei jungen Hauptdarsteller sind großartig, besonders Kathy und Tommy – Keira Knightley ist fast ein wenig zu glamourös. Carey Mulligan wirkt wie das klügste Mädchen, das sich denken lässt, und trotzdem glauben wir ihr die gewaltige geistig-moralische Blindstelle, auf der ihre Fügsamkeit aufbaut. Andrew Garfield – populär geworden vor allem durch seine Fehlbesetzung als Peter Parker in drei Spider-Man-Filmen – spielt den Absturz vom lebensfrohen Wuschelkopf zum wandelnden Leichnam (der sein heiteres Naturell wacker aufrecht hält) mit der verstörenden Authentizität einer Langzeit-Dokumentation. Der Wikipedia-Artikel über den Schauspieler übergeht diese Leistung.