betr.: Ö1 Bücherbox
Der kleine Vierteiler, der diese Woche im Rahmen der Ö1 Sendereihe „Bücherbox“ zum Thema literarische Dystopien zubereitet wurde (Redaktion: Julia Reuter), machte deutlich, dass es im frühen 21. Jahrhundert vor allem zwei große dystopische Romane gibt, die beide aus dem 20. stammen: „1984“ und „Schöne neue Welt“.
Bis heute ist nichts gleichsam Visionäres und Gültiges weit und breit zu sehen. Um die Reihe auf vier Beiträge zu bringen, mussten zwei Werke dazugehoben werden, die heute recht populär sind, neben Orwell und Huxley aber doch etwas beliebig aussehen. Margaret Atwoods „Der Report der Magd“ ist vor allem wegen seiner TV-Serienadaption ein moderner Klassiker (in wenigen Jahren kennt das Ding kein Schwein mehr), und auf Juli Zehs Buch bin ich soeben erstmals hingewiesen worden.
Ich hätte eher „Alles, was wir geben mussten“ von Kazuo Ishiguro mit auf die Liste gesetzt, aber den kennt ja heute schon kein Schwein mehr.* Und gegen „Animal Farm“ spricht, dass wir Orwell dann doppelt hätten …
Wer lange genug durchhält, kann mein herzloses Urteil überprüfen, wenn der test of time sein Wort gesprochen hat.
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Ö1 Bücherbox
George Orwell: „1984“
Ein Überwachungsstaat, der jegliche Individualität zerstört; ein totalitärer Staat, in dem Frauen keine Rechte haben; die „beste aller Welten“, die bei genauerer Betrachtung jedoch in ein Schreckbild kippt; eine Gesellschaft, in der Gesundheit als höchste Bürgerpflicht gilt: Die 13. Staffel der Ö1 Bücherbox widmet sich vier dystopischen Romanen – verstörende Zukunftsszenarien und Gegenwartskritik zugleich.
„Big Brother is watching you.“ Dieser Satz aus dem 1948 veröffentlichten und wahrscheinlich berühmtesten dystopischen Roman fasst pointiert zusammen, in welches Zukunftsszenario der britische Autor George Orwell seine Leser:innen versetzt: Eine lückenlose Überwachung durch Kameras und Monitore, Bespitzelung durch Freunde, Nachbarn und Kinder. In diesem totalitären Überwachungsstaat wird außerdem Geschichtsschreibung verfälscht bzw. den aktuellen politischen Gegebenheiten angepasst. „Doppeldenk“ wird diese Fähigkeit im Roman bezeichnet, also die Fähigkeit, gleichzeitig zwei einander widersprechende Überzeugungen zu hegen und beide gelten zu lassen. Zum Beispiel, dass Zwei und Zwei addiert nicht nur Vier, sondern auch Fünf ergeben kann. Winston Smith, Mitarbeiter im „Ministerium für Wahrheit“, durchschaut dieses brutale System, in dem Individualität keine Rolle spielen darf. Als er sich verliebt, hat das fatale Folgen.
2. Margret Atwood: „Der Report der Magd“
Frauen als unterdrückte Gebärmaschinen. Eine nukleare Katastrophe hat bei vielen Menschen zu Sterilität geführt. In einem fiktiven Staat in Nordamerika haben religiöse Fundamentalisten daher einen totalitären Staat errichtet, in dem Frauen keine Rechte besitzen. Sie werden in drei Gruppen eingeteilt: Ehefrauen von Führungskräften, Dienerinnen und Mägde. Letztere werden zur Fortpflanzung rekrutiert und sollen für unfruchtbare Ehefrauen Kinder empfangen. Auch die Magd Desfred wird Opfer dieses entwürdigenden Programms. Doch sie besitzt etwas, was ihr alle Machthaber, Wächter und Spione nicht nehmen können: Hoffnung auf ein besseres Leben. Die kanadische Schriftstellerin Margret Atwood hat „The Handmaid’s Tale“ 1985 veröffentlicht; ihr provokanter dystopischer Roman gilt nach wie vor als prophetische Warnung, aber auch als kritischer Spiegel vergangener und gegenwärtiger Gesellschaften.
3. Aldous Huxley: „Schöne neue Welt“
Glück wird in Form von Tabletten verabreicht, Sex und Konsum dominieren den Alltag, das Fortpflanzungsproblem ist dank Fertilisationsstationen gelöst. Es gibt weder Bedrohungen noch Krankheit oder Elend. Kurz: Es ist die beste aller Welten. Aber nur, solange man nicht genauer hinsieht. Die Welt im Jahr 2540 nach Christus ist zweigeteilt: In die der perfekt konditionierten Alpha-Klasse, die der Betas und in die der Ureinwohner. Nur der Außenseiter Bernard Marx entzieht sich immer mehr dem Diktat der Herrschenden und der genormten Wohlfühlatmosphäre, die weder individuelle Freiheit noch Kunst zulässt. Der englische Schriftsteller Aldous Huxley hat „Brave New World“, wie der Roman im Original heißt, 1932 veröffentlicht: eine scharfzüngige, durchaus auch humorvolle Zeitkritik und ein Meisterwerk der dystopischen Literatur.
4. Juli Zeh: „Corpus Delicti“
Eine nicht weit entfernte Zukunft, eine Gesellschaft, die nach einer Epidemie freiwillig von einer demokratischen Regierungsform zu einer Gesundheitsdiktatur übergegangen ist. In dem 2009 veröffentlichten, dystopischen Roman der deutschen Autorin Juli Zeh wird Gesundheit zu einer Staatsangelegenheit von höchstem Wert erhoben. Um ein möglichst langes, gesundes Leben zu führen, sind alle Bürger:innen verpflichtet, regelmäßig Berichte über ihre sportlichen Aktivitäten, ihre Ernährung und ihren Schlaf einzureichen. Diejenigen, die sich nicht an diese Vorschriften halten, werden gnadenlos bestraft. Im Mittelpunkt der Handlung steht die junge Naturwissenschaftlerin Mia, die die Unschuld ihres wegen eines Mordes verurteilten Bruders beweisen will und so zu einer Gefahr für das staatliche System wird. „Corpus Delicti. Ein Prozess“ verschaffte Juli Zeh den Spitznamen „Orwell im Rock des 21. Jahrhunderts“.
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* Außer dem ST. GEORGE HERALD natürlich: https://blog.montyarnold.com/2024/11/11/26662/