Über den Dingen

Im Drama „Mehr denn je“ hatte ich ein skurriles déja-vu. Der Film handelt von einer todkranken jungen Frau (Vicky Krieps), die im Internet eine Brieffreundschaft zu einem Leidensgenossen aufnimmt, dessen pragmatisch-unweinerlicher Blog ihr Kraft gibt. Der schriftliche Dialog geht in einen Chat über. Sie bittet, ihn in Norwegen besuchen zu dürfen – um ihn persönlich kennenzulernen, aber auch, weil ihr diese Reise eine Flucht aus dem sehr eng gewordenen Alltag verspricht. Ihrem loyalen, liebenden Mann (Gaspard Ulliel) trotzt sie ab, diese Reise allein zu unternehmen.
Bei ihrem Gastgeber angekommen, erfährt sie, dass sein einsam gelegenes Haus in einem großen Funkloch liegt. Das war abzusehen, wurde aber nicht vorab geklärt, da beide weniger Banales zu bereden hatten. Und so muss die Heldin einen Hügel erklimmen, den „Reception Hill“, um ihren Mann zu erreichen, der sich schon über den abgebrochenen Kontakt sorgt.
Als sie den Hügel erreicht, sitzen dort viele Menschen im Gras und telefonieren vor sich hin. Das ist ebenso naheliegend wie die Information mit dem Funkloch, und ebenso überraschend für uns. Oder jedenfalls für mich: ich hatte mich abermals von diesem alltäglichen Aspekt ablenken lassen.
Diese Szene ereignet sich zu Beginn des zweiten Aktes und ist nicht übermäßig wichtig, ist keine Schlüsselszene. Aber sie hat mich sehr berührt. Auch deshalb weil sie mich an das ergreifende Schlussbild aus „Fahrenheit 451“ denken ließ. Es zeigt die „Book People“, die sich vor einem Regime, das das Lesen verboten hat und Bücher verbrennt, in die Einöde geflüchtet haben, um dort ihre Lieblingswerke auswendig zu lernen und sie so durch diese finstere Zeit hindurch zu bewahren.
„Plus que jamais“ vollbringt noch weitere Wunder, und die meisten davon werden auch jenen einleuchten, die bei der Hügel-Szene nicht auf so merkwürdige Vergleiche kommen. Man kann zum Beispiel darüber staunen, dass ein großer Konflikt keinen Bösewicht haben muss.
Und selbstverständlich muss man nicht krank oder verzweifelt sein, um diesen Film zu mögen.

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