betr.: Zweite Amtszeit des 47. Präsidenten der USA
Giorgio, ein Kind, von dessen besonderer Güte und Schönheit und Intelligenz die ganze Familie überzeugt war, wurde von allen gefürchtet. Der Vater, die Mutter, der Großvater und die Großmutter väterlicherseits, die Dienstmädchen Anna und Ida – sie alle litten unter dem ständigen Albdruck von Giorgios Launen. Keiner aber hätte es gewagt, dies zuzugeben. Vielmehr überboten sich alle in Lobeshymnen, auf der ganzen Welt gäbe es kein zweites so liebes, zutrauliches, fügsames Kind. Jeder versuchte den anderen in hysterischer Bewunderung noch zu überbieten. Und jeder zitterte bei dem Gedanken, das Kind unabsichtlich zum Weinen zu bringen – weniger wegen der Tränen an sich, über die man sich leicht hätte hinwegsetzen können, als wegen der Vorwürfe der übrigen Familie. In Wahrheit war ihnen die Liebe zu dem Kind weitgehend ein Vorwand, um ihre Bosheit aneinander auszulassen und einander ständig zu überwachen. Freilich war es in der Tat schreckenerregend wenn Giorgio in Zorn geriet. Mit der Schlauheit, die für diese Art Kinder bezeichnend ist, verstand er es sehr genau, die Wirkung seiner Waffen abzumessen. Er hatte sich hierfür eine ganze Stufenfolge zurechtgelegt. Ging ihm eine Kleinigkeit gegen den Strich, fing er einfach an zu weinen, und sein Schluchzen war so, dass man glaubte, es müsse ihm die Brust zerreißen. In ernsthafteren Fällen, wenn es sich darum handelte, durch eine länger andauernde Aktion ein bestimmtes Ziel zu erreichen, verlegte er sich aufs Trotzen. Dann sprach er kein Wort, spielte nicht und verweigerte die Nahrungsaufnahme, womit er binnen eines Tages die Familie in restlose Verzweiflung versetzte. Bei ganz wichtigen Anlässen hatte er die Wahl zwischen zwei Taktiken. Die eine bestand darin, dass er vorgab, an geheimnisvollen Gliederschmerzen zu leiden – Kopf und Bauchschmerzen schienen ihm weniger ratsam, denn da bestand immer die Gefahr, dass man ihm Abführmittel eingab. Die andere vielleicht noch schlimmere Methode bestand darin, dass er einfach zu brüllen begann. In solchen Fällen gab es praktisch keinen Widerstand. Giogrio blieb sehr rasch Sieger und hatte das doppelte Vergnügen, zu sehen wie seine Wünsche befriedigt wurden und wie die Großen einander wechselseitig beschuldigten, das arme Kind zur Verzweiflung gebracht zu haben. (…) sein Großvater [war] ein Oberst im Ruhestand, der in der Regel nicht wusste, was er mit sich anfangen sollte. [Demselben] Mann, der einst an der Spitze seiner Reiterei am Fuß des Montello eine tollkühne Attacke gegen die Maschinengewehrstellungen der Österreicher geritten hatte, lief [dann] ein Schauer über den Rücken.
Dino Buzzati wurde 1906 in San Pellegrino geboren. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit arbeitete er als Maler, Zeichner und Bühnenbildner und war langjähriger Redakteur der Mailänder Tageszeitung „Corriere della Sera“. Buzzati starb 1972 in Mailand. Percy Eckstein und Wendla Lipsius übersetzten seine Erzählung „Das despotische Kind“ für den Band „Aus Richtung der unsichtbaren Urwälder“, Klaus Wagenbach Verlag.